Der Enge in allen Lebenslagen begegnen
Ein hoher Berg bedeutet Weitsicht und tiefe Einsicht.

In meiner Tätigkeit als Gefangenenseelsorger ist mir erst aufgegangen, wie schwer ein Leben in der Enge sein kann. Die Welt eines Gefangenen ist plötzlich sehr klein und beschränkt geworden. Neben dem Haftraum gibt es nur noch die Flure und für eine Stunde am Tag den Rundgang draußen im Hof. Ähnlich beengt und beschränkt ist der Lebensraum eines Kranken, der -wie wir treffend sagen -,,ans Bett gefesselt" ist. Oder denken wir auch an alte, gebrechliche Menschen, die das Zimmer nicht mehr verlassen können.
Geht es uns aber nicht allen so, dass uns manchmal ,,die Decke auf den Kopf fällt"? Wir fühlen uns beengt. Wir brauchen einen Ortswechsel, einen weiten Horizont. Wenn es mir zu eng wird, mache ich nach Möglichkeit einen Spaziergang durch eine Gegend mit einem See oder mit weiten Feldern. Da kann ich tief durchatmen, kann auch leichter mit dem Schöpfergott ins Gespräch kommen. Dann gehe ich gestärkt und gelassen nach Hause. Und meine Vorstellung von Urlaub verbinde ich immer mit weiten Landschaften oder dem Meer. Die "Horizonterweiterung" ist notwendig, wenn es eng wird.
Eng kann es auch in unserem Glaubensleben werden, wenn Zweifel und geistliche Lustlosigkeit und Traurigkeit uns bedrücken und gefangen halten. Dann brauchen wir einen weiten Blick, der über das vor Augen Liegende hinausgeht. Auch Abraham musste das erfahren: "Das Wort des Herrn ging in einer Vision an Abram: ,Fürchte dich nicht, Abram, ich bin dein Schild; dein Lohn wird sehr groß sein.' Abram antwortete: ,Herr, mein Herr, was willst du mir schon geben? Ich gehe doch kinderlos dahin ...' Der Herr führte Abram hinaus und sprach: ,Sieh doch zum Himmel hinauf, und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst.' Und er sprach zu ihm: ,So zahlreich werden deine Nachkommen sein.'"(Gen 15,4-5).
Die Jünger Jesu waren durch seine Leidensankündigung erschüttert. Da führt Jesus ein paar Tage später drei der Jünger auf einen hohen Berg, und sie dürfen einen Blick auf seine verklärte Herrlichkeit werfen. Alle drei Evangelisten haben die Verklärungsszene zwischen die erste und zweite Leidensankündigung Jesu gesetzt. Der hohe Berg bedeutet Weitsicht und tiefere Einsicht. Nur so können die Jünger das Ärgernis des Leidens Jesu ertragen.
Auch die Psalmenbeter erfahren in ihren notvollen Klagen vor Gott, dass er sie aus der bedrängenden Enge führt: "Du hast meine Füße auf weiten Raum gestellt" (Ps 31,9).
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 18.04.2002