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Wie soll es weitergehen?

Viele Fragen nach der Entscheidung des Prager Parlaments zu den Benes-Dekreten

Begegnung: Pater Angelus Waldstein (rechts) ist Autor dieses Gastbeitrages. Das Bild zeigt ihn während eines Besuches in Tschechien im Rahmen der diesjährigen Begegnungstage der Ackermann-Gemeinde.

Die am 24. April verabschiedete tschechische Erklärung zu den so genannten Benes-Dekreten hat viele und bei weitem nicht nur (Sudeten-)Deutsche vor den Kopf gestoßen: Mit einem sieghaften Unterton konnte gemeldet werden, dass erstens diese Stellungnahme alle Parteien übergreifend zustande gekommen sei, was etwas peinlich an die seit April 1945 unter kommunistischem Übergewicht in der Tschechoslowakei regierende "Nationale Front" erinnert, und dass zweitens auch Präsident Havel zugestimmt habe, der ansonsten einer ununterbrochenen Kritik von Seiten des regierenden "Oppositionsbündnisses" ausgesetzt ist und somit eigentlich bis heute die Rolle eines Dissidenten in seinem Land zu spielen hat.

Was an dieser Erklärung wehtut und auch wehtun darf, ist nicht die nach einem halben Jahrhundert längst einsehbare und weitgehend auch akzeptierte Unmöglichkeit, eine Vertreibung von drei Millionen Menschen rückgängig zu machen. Wirklich wehtun muss die dafür gegebene Begründung, dass der "Abschub" (Odsun) berechtigt war, von den Siegermächten akzeptiert, ja sogar "beschlossen" worden sei und ein unantastbarer Teil der gesamten (in anderen Punkten schon durchaus ungültig gewordenen) "Rechts-Ordnung" in dem 1945 wiederhergestellten Staat ist.

Zur Erinnerung: Die Potsdamer Konferenz Ende Juli 1945 befasste sich mit den durch das Kriegsende unmittelbar zu lösenden Fragen, sah sich konfrontiert mit den bereits seit zwei Monaten in Gang gekommenen "wilden" und gleichwohl durch die tschechische Armee organisierten Vertreibungen der Sudetendeutschen in die russisch besetzten Zonen Deutschlands und Österreichs -noch nicht aus dem amerikanisch besetzten Westböhmen! Vor allem Churchill verwies auf die kaum zu bewältigende Last eines solchen Zustroms von Vertriebenen in ein kriegszerstörtes Land. Man einigte sich auf einen sofortigen Vertreibungs-Stop, bis die künftige Regelung und Aufsicht durch den Alliierten Kontrollrat übernommen sei und gewährleistete so eine wenn schon, dann "humane und geordnete" Durchführung: eine wöchentliche Höchstzahl von "Abgeschobenen", Mitnahme von mehr als nur 40 kg Gepäck, Vollständigkeit der Familien ...

Doppelpunkt für die Zukunft statt Schlussstrich

Nur die Historiker sollen sich noch dafür interessieren dürfen, was da 1945/46 geschah, so heißt es seit der deutsch-tschechischen Deklaration von 1997, die von der tschechischen Regierung lieber als Schlusspunkt denn als Doppelpunkt für eine gemeinsame Zukunft angesehen wird. Wie aber, wenn -wie es zunehmend geschieht -tschechische Historiker fundiert zu anderen Erkenntissen und Beurteilungen kommen, als die Staatsraison erlaubt, und eine Reihe von Intellektuellen und mutigen Journalisten diese zitieren, dokumentieren und zur Diskussion stellen? Mit leichter Hand ging der Kulturminister darüber hinweg: Die Presse sei ja bekanntlich ganz in deutschen Händen ... Gleichzeitig wird aber unermüdlich betont, das Einvernehmen mit Deutschland sei so gut wie nie zuvor, es gebe überhaupt keinen Anlass, von einer nötigen Versöhnung zu reden. Faktisch scheint nur ein kleiner unverdauter Rest übrig zu bleiben: die vom Österreicher Haider assistierten revanchistischen "Landsmannschaftler" mit ihren Maximalforderungen.

Nun wäre es genau das Falsche, wenn sudetendeutsche "Sprecher" daraufhin die Fassung verlieren und ebenso gehässig "herausgeben" würden, woran einige "Schreiber" freilich nicht zu hindern sind. Besonnenheit ist am Platz und ein Rückblick auf die bald 60 Jahre seit der Vertreibung und darüber hinaus, der selbstkritisch gewichtet und dann auch durchaus dazu berechtigt ist, ein verzeichnendes Bild zu korrigieren, wie es beharrlich -leider oft auch -hüben wie drüben über die Sudetendeutschen produziert wurde und wird.

Die ersten Jahre nach 1945 standen für die vertriebenen Deutschen unter dem Verbot der Siegermächte, sich politisch zu formieren und zu artikulieren, was in der DDR für die als "Umsiedler" bezeichneten auf Dauer galt, für die "Heimatvertriebenen" in der Bundesrepublik, sobald diese sich konstituieren durfte, nicht mehr. Die Jahre bis dahin waren die unwiederbringlich einmalige, verantwortungsvoll genützte Chance der Seelsorge: Einen Weg nicht nur aus der materiellen, sondern auch aus der seelischen Not zu weisen. Was 1950 in der "Charta der Heimatvertriebenen" niedergelegt wurde, war die Frucht christlicher Selbstbesinnung: eine religiös motivierte Absage an "Rache und Vergeltung", nachdem gerade die Sudetendeutschen zuvor am eigenen Leibe erfahren hatten, was damit gemeint war und was denn auch Václav Havel am 15. März 1990 in seiner unvergesslichen, befreienden Rede bestätigte: Was 1945 von Tschechen an Deutschen geschah, "das war nicht Strafe, das war Rache."

Die Vision einer "christlichhumanistischen Wiedergeburt Europas" stand 1949 hinter der "Eichstätter Erklärung", die "aus dem Gefühl der Verantwortung politisch und publizistisch tätiger Menschen erwachsen." Sie schloss ausdrücklich auch den östlichen Nachbarn, die "uralte Schicksalsgemeinshaft der Donauvölker" mit ein. Nur auf Deutschland konzentriert zeigte sich hingegen das erste Manifest der 1950 entstehenden Sudetendeutschen Landsmannschaft, ihre "Detmolder Erklärung". Sie postuliert wohl ein "auf Rechtsgrundsätzen und Wahrung der Menschenrechte" beruhendes Europa, auszubauen als "einheitliches Wirtschaftsgebiet", der slawische Nachbar aber bleibt in diesem Dokument völlig unerwähnt. Das Recht auf Heimat ist in beiden Texten proklamiert, was fünf Jahre nach der Vertreibung noch keineswegs als unrealistisch gelten musste.

Eine Heimkehr in die Geschichte

Jenen Sudetendeutschen, die sich vornehmlich auf ihre christlichen Wurzeln besannen und sich programmatisch an der schon 1946 entstandenen Ackermann- Gemeinde und der Eichstätter Initiative orientierten, wurde schon sehr bald durch die kommunistische Kirchenverfolgung der Blick über die Grenze in die alte Heimat gelenkt, in neuer brüderlicher Solidarität bis hin zur langjährigen kirchlichen Überlebens- und Aufbauhilfe, die etwa den Leitmeritzer Bischof 1989 danken ließ "für die vielen neugedeckten Kirchendächer" als visuellen Ausdruck geleisteter Unterstützung. Auf der gleichen Grundlage knüpfte sich vielfach -oft über einzelne Heimatverbliebene -der Kontakt zu den neuen Bewohnern daheim, auf privater Ebene von der DDR aus vielfach intensiver und auch erheblich früher, weil kein Eiserner Vorhang zu überwinden war und keine Existenz einer Organisation Vorbehalte erzeugte. Von geradezu unschätzbarer Bedeutung wurde auf diesem Wege zum Beispiel der Leipziger St. Benno-Verlag als Vermittler geistiger Nahrung.

Ganz privat konnte sich hier auch eine "Heimkehr in die Geschichte" anbahnen, durften allmählich die Spuren deutscher Vergangenheit wieder erkennbar werden, in der Presse, in der Literatur, in der Heimatforschung, und seit der Wende auch in erneuerten Inschriften auf Denkmälern und Grabsteinen, noch immer begleitet von tschechischen Ängsten, dahinter könne doch nur der Anspruch auf volle "Wiedergewinnung der Heimat" stecken. Das sensible Hineindenken der Deutschen in die örtlichen Gegebenheiten und Wundstellen und die geschichtlich fundierte Zivilcourage tschechischer Gemeindevertreter -und natürlich der großherziger Christen -haben da im letzten Jahrzehnt zahlreiche Wunder neuer Begegnung gewirkt.

Erst recht gilt dies von den im letzten Jahrzehnt entwickelten und wesentlich erweiterten Möglichkeiten und Instrumentarien des Zueinanderfindens. Vielfach von sudetendeutscher Abkunft sind die Lehrer, die mit Sachkompetenz und Engagement hinter den Jugendbegegnungen und Schulkontakten stehen, sind Mitglieder in den neu geschaffenen Gremien wie dem Zukunftsfonds oder dem Gesprächsforum samt Koordinierungsrat, die zum Beispiel erst kürzlich die Konkretisierung eines Punktes voranbrachten, der bereits im ersten Nachbarschaftsvertrag von 1992 steht: "dass deutsche und tschechoslowakische Gräber auf ihrem Gebiet in gleicher Weise geachtet und geschützt werden." Gar nicht mehr eigener Hervorhebung sollte bedürfen, was kulturelle Institutionen schon jahrzehntelang an grenzüberschreitender Arbeit geleistet haben, allen voran der den Sudetendeutschen eigene Adalbert Stifter-Verein. Aber auch in ihren eigentlich politischen Gremien wirkende Sudetendeutsche haben längst differenziertere Formulierungen eingebracht.

Dennoch vermag die hohe tschechische Politik das alles nicht wahrzunehmen, geschweige denn sich dazu zu bekennen und sieht das lobenswert gute deutsch-tschechische Verhältnis vornehmlich auf dem Gebiet der Wirtschaft, woran ihr auch am meisten gelegen ist. Dabei haben Umfragen wiederholt ergeben, dass gerade in den ehemalig deutschen Grenzgebieten die Deutschenangst sehr viel geringer ist als im Landesinneren, wo die Erfahrung der Begegnungen fehlt und die alte Indoktrination fortwirkt. Aber es ist Wahlkampfzeit, in der die populistische Berücksichtigung ererbter Ressentiments und ausdrücklich proklamierter "nationaler Interessen" wichtiger erscheint als deren souveräne Überwindung durch beharrliche Aufklärungsund Bildungsarbeit.

Neues, tiefes Atemholen ist jetzt nötig

Die Frage, die sich nach der jüngsten, anscheinend flächendeckend (von 200 Abgeordneten waren 169 anwesend) unterstützten Verlautbarung zur Unantastbarkeit der Benes-Dekrete stellt, wie es auf dem Weg zu Verständigung und Nachbarschaft weitergehen soll, ist für Christen im Grunde einfach zu beantworten: Wie bisher, auch wenn ein neues tiefes Atemholen nötig ist! Die Botschaft, die die Christen und die ihnen auf beiden Seiten Zustimmenden vertreten, ist selbst Rückhalt genug, ihre Kraft der Vergebung beruft sich auf ihre Gotteserfahrung, und auch in ihrem Mut, das eigene historische Versagen dabei nicht zu unterschlagen, wissen sie sich nicht desavouiert, sondern von Gott in ihrer menschlichen Würde garantiert und erhalten. Und die Zahl der Partner in diesem aufeinander-Zugehen ist doch vielleicht hüben wie drüben schon so erkennbar groß geworden, dass sie nicht ignoriert werden und nur noch weiter wachsen kann.

P. Angelus Waldstein OSB (leicht gekürzt)

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 21 des 52. Jahrgangs (im Jahr 2002).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 23.05.2002

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