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Auf zwei Minuten

"Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen"

Der kürzeste Weg der Wahrheit kann eine Geschichte sein

Pater Damian

"Was ist das?", "Was bedeutet das?", "Wie steht es mit?" oder "Warum tust du das?"... Wenn ich jemandem eine Frage stelle, möchte ich normalerweise eine direkte Antwort. Und ich erwarte auch meistens eine solide Begründung. Wahrscheinlich haben die Menschen zur Zeit Jesu die gleiche Erwartung gehabt, wenn sie Fragen an Jesus richteten. Aber was tut er? Er gibt ihnen eine Geschichte, ein Gleichnis zu hören! Man findet bei ihm beispielsweise keine direkte Antwort auf die Frage: "Was ist das Reich Gottes, das Himmelreich?"

Jesus stellt die Bedeutung und Dynamik des Reiches Gottes in vielen Gleichnissen dar, die jeweils einen Aspekt beleuchten. Als man ihm den Vorwurf macht, er gebe sich mit Sündern ab und halte sogar Mahl mit ihnen, erzählt er die provozierende Geschichte vom verlorenen Sohn. Auf die Frage: "Wer ist mein Nächster?" antwortet er mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Es heißt von ihm: "Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen" (Mt 13,34). Und er sagt: "Deshalb rede ich zu ihnen in Gleichnissen, weil sie sehen und doch nicht sehen, weil sie hören und doch nicht hören und nichts verstehen" (Mt 13,13). Jesus hatte wohl die Erfahrung gemacht: Bloßes Argumentieren spricht die Zuhörer nicht an, es trifft nicht ihr Herz, sie nehmen es sich nicht zu Herzen, und so verstehen sie eigentlich nichts. Eine Geschichte, ein Gleichnis Jesu aber fordert den Zuhörer heraus. Er muss Stellung dazu nehmen, ist aufgefordert, sich mit den handelnden Personen oder dem Ereignis und Vorgang zu identifizieren oder davon Abstand zu nehmen. Bei dem Gleichnis vom verlorenen Sohn beziehungsweise dem guten Vater wird der Zuhörer mit einem Gottesbild konfrontiert, das ihn zur Entscheidung ruft. Er muss sich auch mit der Haltung der beiden Brüder auseinandersetzen. Bei der Beispielgeschichte vom barmherzigen Samariter wird er am Schluss direkt aufgefordert: "Geh und handle genauso" (Lk 10,37)!

Der 1987 verstorbene indische Jesuit Anthony de Mello war ein meisterhafter Geschichtenerzähler. Er hatte die Gabe, seine Zuhörer mit seiner von Geschichten und Späßen gespickten Rede stundenlang zu fesseln. Seine Geschichten öffnen die Hörer für die tiefgründigen Wahrheiten. Hier eine Geschichte zu seinen Geschichten: Ein Meister zeigte sich unbeeindruckt von den Klagen seiner Schüler, die ihm eines Tages sagten, sie würden seine Gleichnisse und Geschichten zwar gern hören, seien aber doch enttäuscht, da sie nach Tieferem trachteten. Auf ihre Einwände erwiderte er einfach: "Ihr müsst doch begreifen, meine Lieben, dass der kürzeste Abstand zwischen einem Menschen und der Wahrheit eine Geschichte ist."

Pater Damian Meyer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 19 des 52. Jahrgangs (im Jahr 2002).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Dienstag, 07.05.2002

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