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Zwischen allen Stühlen

Wie der Alltag das Gewissen belastete - Hadwig Klemperer in Halle über ihren Mann Victor

Hadwig Klemperer: Täglicher Konflikt.

Halle -Bereits eine halbe Stunde vor Beginn gab es keinen freien Platz mehr. Über hundert Zuhörer wollten am 30. Mai Dr. Hadwig Klemperer zum "Prominentengespräch" in der halleschen Saalkreisbibliothek erleben.

Hadwig Klemperer, geborene Kirchner, ist die zweite Frau und Witwe des berühmten Philologen, Romanisten und Chronisten Victor Klemperer (1981 bis 1960). Die 45 Jahre jüngere Germanistin heiratete 1952 ihren Professor nach dem Tod seiner ersten Frau Eva.

Victor Klemperer lehrte vor dem Krieg an der Technischen Hochschule in Dresden und nach 1945 in Greifswald, Halle und Berlin. Berühmtheit erlangte er durch seine zweibändige französische Literatur des 18. Jahrhunderts und das Buch "LTI" (Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reiches), sein "Notizbuch eines Philologen", Beobachtungen des Sprachverfalls, der sich seiner Ansicht nach im "Vierten Reich" unverändert fortsetzte. Seit seinem 16. Lebensjahr führte Victor Klemperer fast täglich "unwiderlegbar und unwiderstehlich" -bis in die letzte Zeit vor seinem Tod Tagebuch. Es galt ihm als Stoff für seine Biographie, sein "Curriculum vitae" und als "Balancierstange" in vier politischen Systemen.

Nach 1941 durfte er als Jude keine Vorlesungen mehr halten, wurde in "Judenhäuser" zwangsumgesiedelt, musste Zwangsarbeit leisten. In dieser Zeit, von den Nazis seiner Schreibmaschine beraubt, schrieb er nur am Tagebuch, das als die eindrucksvolle Beschreibung des Alltags im Dritten Reich gilt und als Buch mit dem Titel "Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten" erschien.

Hadwig Klemperer, die bei der Herausgabe der Tagebücher maßgeblich mitwirkte, sprach vor allem über Klemperers Leben in der Nazizeit. Sie kritisierte den dazu entstandenen Fernsehfilm als in vielen Szenen "haarsträubend" und "grauenvoll", weil fern von der Realität. Man habe ihr vorher weder das Drehbuch gezeigt, noch sie um ihre Zustimmung bei der Besetzung ersucht.

Im Publikum saßen Leute, die die letzten Tagebücher gelesen hatten, auch welche, die Victor und Hadwig Klemperer noch von ihren Vorlesungen in Halle kannten. So war für viele die Zeit ab 1945, nach "märchenhafter Rettung", die 15 Jahre bis zu Klemperers Tod besonders interessant. Voller Hoffnung bemühte sich Klemperer damals um die Erneuerung des Hochschulwesens, um einen eigenen Lehrstuhl. Er wollte wieder Kolleg halten -"ein verzweifelter Kampf für die Freiheit des Gewissens". Sah er anfangs noch in der DDR das kleinere Übel gegenüber dem Westen, spürte er im Laufe der Zeit immer größere Widersprüche. Bald fand er zwischen SED- und Nazi-Gesinnung kaum noch Unterschiede: "Die Tyrannei, der Gewissensdruck, die Zerrissenheit der Kinder -Nazismus durchweg", notierte er. Während einer China- Reise 1958 wurde er, der "SEDProfessor", zum "endgültigen Antikommunisten." Im Jahr zuvor ließ er sich ohne den rechten Glauben, aber "verantwortlich" für die "Gewissensruhe" seiner Frau, heimlich katholisch trauen. Der innere Konflikt gegenüber den Herrschenden nahm zu. "Warum widerrufe ich nicht öffentlich?" Befriedigende Antworten konnte Hadwig Klemperer an diesem Abend auch nicht geben. Und sollte es welche geben, dann im letzten Tagebuch: "So sitze ich denn zwischen allen Stühlen."

Christoph Kuhn

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 24 des 52. Jahrgangs (im Jahr 2002).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 12.06.2002

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