Die Rolle des Zuschauers
Niemand sollte fragen, was kann man machen, sondern: Was kann ich machen?

Wir erleben uns und unsere Mitmenschen täglich in unterschiedlichen Rollen und Tätigkeiten: Als Fachleute, Amateure, als Eheleute, als Eltern, als Kolleginnen und Kollegen, als Freunde, in Berufsarbeit und Freizeit ... Eine Rolle, die einen großen Teil der Freizeit einnimmt, ist die des Zuschauers. Die Fernsehprogramme laden jeden Tag ein, es uns im Sessel bequem zu machen und dem Gebotenen zuzuschauen. Die gegenwärtige Fußball- Weltmeisterschaft erhöht noch um ein Vielfaches die Zahl der Zuschauer. Der Zuschauer ist gerade bei Sportsendungen nur passiv beteiligt. Er kann höchstens seine Freude zusammen mit dem Publikum im Stadion zum Ausdruck bringen, oder sich laut ärgern über verpasste Torchancen. (Man soll mich nicht missverstehen: Ich will niemandem die Freude an der Fußball-Weltmeisterschaft vergällen!). Im Vergleich zum reinen Zuschauen fordert echtes Zuhören dagegen die aktive Mitarbeit heraus. So ist es auch beim Lesen anspruchsvoller Bücher.
Das Zuschauen ist sozusagen ein Sekundärerlebnis: Die Aktion wird von anderen erledigt, man lässt sich durch andere vertreten und übernimmt die passive Rolle des Dabeiseins. Schon die alten Römer machten die Erfahrung: Das Volk will "Brot und Zirkusspiele" und kümmert sich nicht zu sehr um das Gemeinwohl und die Staatsinteressen. Ob die viel zitierte "Politikverdrossenheit" unserer Tage, die sich zum Beispiel in geringer Wahlbeteiligung zeigt, nicht auch daran liegt, dass wir zu sehr in die Rolle des Zuschauers hineingeraten sind? Das bloße Zuschauen nimmt manchmal makabre Formen an, wenn Schaulustige sich an einem Unfallort sammeln. Noch schlimmer: Manche schauen aus dem Fester zu, wie jemand brutal zusammengeschlagen wird, ohne wenigstens die Polizei zu benachrichtigen.
Wenn die Rolle des Zuschauers in unserem Leben einen so großen Platz einnimmt, könnte man versuchen, einen Ausgleich zu schaffen: Nach Möglichkeit selbst Sport treiben, Lesen, Gespräche über ernsthafte Themen führen, aktiv ein Hobby betreiben und so weiter. Und als Christ kann man sich nicht auf die Rolle des Zuschauers und Mitläufers beschränken. Das Wort Jesu ist eindeutig: "Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt" (Mt 7,2 1). Christentum ist Tat-Sache: Nächsten- und Gottesliebe, Gottes- und Weltdienst sind zwei Aspekte der einen christlichen Berufung. Diese Berufung kennt keine Anonymität: "Wer fragt: ,Was hat man zu tun?' für den gibt es keine Antwort. ,Man' hat nichts zu tun. ,Man' kann sich nicht helfen. Mit ,man' ist nichts mehr anzufangen. Mit ,man' geht es zu Ende. Wer aber die Frage stellt: ,Was habe ich zu tun?', den nehmen Gefährten bei der Hand, die er nicht kannte und ihm alsbald vertraut werden, und die antworten, ,Du sollst dich nicht vorenthalten'" (Martin Buber).
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 12.06.2002