Vorurteile und Meinungen
Die Frage ist, ob wir bereit sind, den Fremden kennnen zu lernen.

Nach neuesten Untersuchungen hat die Ablehnung von Juden, Amerikanern und Arabern in Deutschland, besonders in Westdeutschland, zugenommen. Diese Einstellung -nach Parteizugehörigkeit jeweils verschieden -ergibt sich wohl auch aus dem gegenwärtigen Konflikt zwischen Juden und Arabern in Palästina und der umstrittenen Rolle der Amerikaner als Weltpolizisten und Kämpfer gegen den Terrorismus. Wären die Meinungen der Befragten im Einzelnen begründet und differenziert, brauchte man sich über diese Tendenz keine großen Sorgen zu machen. Gefährlich ist der Hang -nach Stammtischmanier -zu Verallgemeinerungen: ,,Die Juden sind ...", ,,Die Araber sind alle ..." , "Die Amerikaner sind doch ..."
Ein Deutscher wurde gefragt, ob er die Franzosen liebe: "Nein, aber ich liebe Jean, einen Bekannten aus Toulouse". Ob er die Engländer liebe. "Nein, aber ich liebe meine Freundin Mary aus Birmingham." Hier zeigt sich, dass Kennenlernen und Vertrautheit die Voraussetzungen für Hochschätzung und Liebe sind. Achtung vor einem anderen ist nicht möglich ohne ein wirkliches Kennen des anderen als Person. Was der Psychologe Erich Fromm schreibt, finde ich zum Beispiel im Umgang mit Gefangenen bestätigt. ,,Die Erkenntnis, die ein Aspekt der Liebe ist, bleibt nicht an der Oberfläche, sondern dringt zum Kern vor. Sie ist nur möglich, wenn ich mein eigenes Interesse übersteige und den anderen so sehe, wie er wirklich ist. So kann ich zum Beispiel merken, ob jemand sich ärgert, selbst wenn er es nicht offen zeigt; aber ich kann ihn auch noch tiefer kennen, und dann weiß ich, dass er Angst hat und sich Sorgen macht, dass er sich einsam und schuldig fühlt." Die Frage ist, ob wir bereit sind und die Möglichkeiten wahrnehmen, den anderen, den Fremden wirklich kennen zu lernen. Oberflächliche Kontakte hinterlassen leider oft ein negatives Bild. Wer einmal schlechte Erfahrungen gemacht hat oder betrogen worden ist, neigt leicht zu Allgemein-Verurteilungen.
Eine Anekdote aus der Welt des osteuropäischen Judentums zeigt auf humorvolle Weise die Spannung zwischen Allgemeinurteilen und der Einschätzung von Einzelpersonen: "Wenn ihr einen Goj (Nichtjuden) fragt, was er von den Juden hält, so wird er euch zur Antwort geben: Die Juden? Ein abscheuliches Volk, lauter Schwindler, Betrüger und Diebe. -Nun, was haltet ihr denn von Nathan? -Nathan? Ja, das ist ein anständiger Mensch. Er hat mir mein Heu abgekauft und einen sehr guten Preis gezahlt. -,Und wie denkt Ihr über Schmul? -Schmul? Das ist der tüchtigste Mann, der mir je begegnet ist. Er hat für mich mit dem Gutsherrn verhandelt, und das hat er ganz ausgezeichnet gemacht. -Fragt ihr einen Juden, was er denn von den Juden hält, so wird er euch entgegnen: Was soll das? Die Juden sind das auserwählte Volk, ein Volk mit Klugheit und Verstand, unter allen Völkern das weiseste. -Nun, und was für eine Meinung habt ihr von Berle -Was? Der Gauner? So einen miesen Kerl hat die Erde noch nicht getragen. Er hat mich betrogen. -Und was meint ihr zu Izchok? -Der Lump? Der verfluchte Schweinhund!"
P. Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 20.06.2002