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Warten - ohne zu wissen, worauf

Vielen Menschen in Russland geht es schlecht. - Die Caritas in Saratow hilft.

Vladimir und Claudia leben in einer Hochhaussiedlung am Stadtrand von Saratow.

"Manchmal fühle ich mich, als würde ich in den Müll geschmissen. Das geht vielen Menschen in Russland so. Und daran wird sich wohl auch nichts ändern." 45 Jahre alt ist Olga Knjasenskaja. Die Mutter von zehn Kindern sitzt in der Küche ihrer Wohnung. Auf dem Schoß der jüngste Spross der Familie. Der zweijährige Sascha steckt in einer zerrissenen Strumpfhose und einem viel zu großen Pullover. An den Füßen trägt er Schuhe, denen die Schnürbänder fehlen. Der Linoleumfußboden hat an einigen Stellen Löcher. Auf dem Gasherd steht ein uralter Kessel mit siedendem Wasser. Olga stellt ein paar Tassen auf die Wachstischdecke, denn sie hat heute Besuch bekommen. Alla Wasentina ist Mitarbeiterin beim Ortscaritasverband von Saratow, einer Millionenstadt südlich von Moskau. Sie ist Projektleiterin für den Bereich "Hilfe für kinderreiche Familien und Arme". Und davon gibt es genug in der Stadt.

Vor ein paar Jahren hatte es Familie Knjasenskij besonders schwer. Der Mann verlor seine Arbeit und fing an zu trinken. "In dieser Zeit lernte er auf der Straße einen Caritasmitarbeiter kennen", erinnert sich Olga. Inzwischen hat ihr Mann Igor wieder eine Beschäftigung, ist Wachmann unten an der Wolga. "Das Geld reicht trotzdem nicht aus. Aber ich bin viel an der frischen Luft und kann meine Kinder manchmal mitnehmen." Der ehemalige Soldat hat gelernt, mit wenig zufrieden zu sein. In den 70er Jahren war er in Leipzig stationiert. "Nix verstehen, Schnaps" -das sind die einzigen Worte, die er noch auf Deutsch sagen kann. "Natürlich haben wir Schulden und der Kühlschrank ist immer leer", gibt seine Frau unumwunden zu. "Sascha hat einen Sichelfuß und müsste unbedingt operiert werden. Aber woher sollen wir das Geld nehmen?" Ein paar Wochen noch wird der Junge wegen seiner Behinderung Unterstützung vom Staat bekommen. Doch die finanzielle Zuwendung ist begrenzt. "Den Behörden ist es egal, ob er operiert wird. Irgendwann ist er in ihren Augen wieder gesund", erklärt seine Mutter verbittert.

Eine Kelleretage mitten in der Fußgängerzone beherbergt das Büro des Caritasverbandes. Fünfmal in der Woche bieten die Mitarbeiterinnen hier eine Sozialberatung an. Igor hat sich die Stufen zur Caritas hinab getraut. Auch seiner Familie geht es schlecht. "Wir werden ihn jetzt zu Hause besuchen", erklärt Alla Wasentina. "Manchmal kommt es leider vor, dass die Leute die Unwahrheit sagen. Aber das ist zum Glück eine Ausnahme." Wenn sich die Caritas-Mitarbeiterin ein Bild von der häuslichen Situation gemacht hat, kann sich die Familie Lebensmittel oder Bekleidung abholen. "Geld geben wir ungern mit", sagt die Projektleiterin. "Das wird nämlich meist in Alkohol umgesetzt".

Caritas bietet Möglichkeit, sich auszusprechen

Mancher kommt in der Sozialsprechstunde nur vorbei, um sich einmal auszusprechen. "Bei staatlichen Stellen ist das nicht möglich. Die haben keine Zeit, mit den Leuten zu reden", erzählt Olga Bessanowa, die sich als Projektleiterin um alte Menschen kümmert. Bei rund 30 Senioren, die meist allein leben, kommt einmal pro Woche eine Mitarbeiterin der Caritas vorbei. Die Frauen helfen in der Küche, beim Aufräumen oder beim Nähen. Wer besonders schlimm dran ist, erhält auch von einer staatlichen Stelle dreimal in der Woche Besuch. "Aber diese Frauen haben nur 15 Minuten Zeit", beklagt Olga Bessanowa. "Dann müssen sie schon wieder gehen, denn sie kümmern sich um bis zu zwölf Patienten pro Tag." Da freuen sich die Senioren, wenn sie mit den Leuten von der Caritas ein wenig plaudern können. Hilfe in ihrer Einsamkeit.

"In kritischen Situationen wollen wir Menschen neue Hoffnung geben und ihr Leben in eine andere Richtung lenken", sagt Pater Michael Screen. Der irische Priester ist nicht nur Generalvikar des Bistums Südrussland, sondern auch Caritasdirektor von Saratow. Oft genug kommen Männer in die Sprechstunde, die sich nicht mehr um eine neue Arbeit kümmern wollen. Sie haben die Hoffnung verloren. Dann können sie bei der Caritas eine Zeitung mit Job-Angeboten durchblättern. Da ist schon mal etwas dabei. "Hilfe zur Selbsthilfe nennen wir das", sagt Pater Michael. "Den Menschen aufzeigen, was sie selbst machen können."

Hilfe braucht aber auch der Verband selbst. Ein Großteil der Gelder, die russische Caritas- Mitarbeiter verteilen, kommt aus Westeuropa. Die fast ausnahmslos aus dem Ausland stammenden Priester bringen die Devisen ins Land. In Saratow engagieren sich einige Gemeinden aus dem Bistum Osnabrück. Der dortige Diözesan- Caritasverband unterstützt den Aufbau neuer Strukturen.

Die Katholiken bilden in Russland eine verschwindend geringe Minderheit. In Saratow, am Sitz von Bischof Clemens Pickel, hat die Gemeinde gerade einmal 120 Mitglieder. Unterstützung von außen ist lebensnotwendig. Doch es muss nicht immer Geld sein. Die in einer Baracke am Stadtrand hausenden Flüchtlingsfrauen warten den ganzen Tag. Sie stammen aus verschiedenen Ländern der ehemaligen Sowjetunion und haben jetzt alle einen russischen Pass. "Wir warten, aber wir wissen nicht so recht, worauf wir eigentlich warten", sagt Luba. Nur Larissa weiß es genau: Sie wartet auf ihren Mann, der sie verlassen hat. Vor zwei Jahren ist er nach Deutschland ausgereist und hat sie mit dem damals ein Jahr alten Kind zurückgelassen. Auch alle Papiere hat er mitgenommen, die die gemeinsame Ausreise nach Deutschland ermöglicht hätten. Ottmar Steffan, Caritasmitarbeiter aus Osnabrück, wird sich jetzt einschalten und den Mann in Deutschland aufzuspüren versuchen. "Damit wird der Frau zwar kaum die Ausreise möglich sein, aber sie könnte vielleicht den Anspruch auf Alimente durchsetzen", hofft er.

Claudia hat 1997 zum letzten Mal das Haus verlassen

Szenenwechsel: Eine Hochhaussiedlung am Stadtrand. In dem kleinen Zimmer in der Wohnung in der dritten Etage stehen zwei Kleiderschränke nebeneinander, ein Tisch, ein Stuhl, daneben ein Bett, das mit einem Vorhang abgeteilt ist. Alte Fotos von Familienangehörigen hängen an den Wänden, daneben das eines Pin-up- Girls. Hier leben Vladimir, der an den Rollstuhl gefesselt ist, und seine Frau Claudia, die seit 42 Jahren gehbehindert ist. Während Vladimir an Multipler Sklerose erkrankt ist und deshalb nicht mehr laufen kann, leidet seine Frau an den Spätfolgen einer Attacke ihres früheren Mannes. Der wollte sie mit einem Messer im Schlaf ermorden. "1997 hat Claudia das letzte Mal die Wohnung verlassen. Ich war 1999 zuletzt an der frischen Luft", erinnert sich Vladimir. Einmal pro Woche kommt Hilfe vom staatlichen Sozialdienst. Außerdem besteht guter Kontakt zu den Nachbarn. Sie kommen, machen die Wohnung sauber, sorgen für die Papiere und die Bezahlung der Wohnung. Und dann gibt es Murat, den Mitarbeiter der Caritas. Er hat früher im selben Haus gewohnt und kennt Vladimir und Claudia gut. Alle paar Wochen schaut er bei ihnen vorbei. Wenn es nötig ist, bringt er einen Sack Mehl oder Kartoffeln mit. Manchmal gibt es auch kleinere Sachen zu reparieren. Aus einer Tasche an seinem Rollstuhl wühlt Vladimir umständlich einen Schraubenzieher hervor. Murat geht zur Terrassentür und schraubt eine Blende ab. Die hat während des Winters dafür gesorgt, dass die Ritze zwischen Tür und Türrahmen dicht bleibt. Aber so konnte Vladimir mit seinem Rollstuhl nicht auf den Balkon. Demnächst wird er dort wieder Tomaten anpflanzen. "Er hat Glück, dass das Haus erst 14 Jahre alt ist", erklärt Murat. "In älteren Häusern sind die Balkone meist nicht mehr zu benutzen, weil sie absturzgefährdet sind." Ob die beiden Alten noch einen Traum haben? Vladimir lacht breit. "Wir wollen sterben, solange wir noch selbst etwas tun können."

"Wer zur Caritas nach Saratow kommt, dem wird auf jeden Fall geholfen", erklärt Pater Michael. Und wenn es einmal kein Geld mehr für Hilfe gibt? "Dann haben wir unsere Sammelbüchse", sagt er. "Da sind immer ein paar Rubel drin." Gespendet haben das Geld Menschen, die selbst bei der Caritas Hilfe gesucht haben. Und sie haben den Zettel gelesen, der vor der Büchse steht. "Sie haben die Möglichkeit, unsere Hilfe zu unterstützen. Ihre Spende hilft Menschen, die noch ärmer sind als Sie."

Matthias Petersen

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 26 des 52. Jahrgangs (im Jahr 2002).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 27.06.2002

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