"Unter des Herrn Hut"
Die evangelische Brüder-Unität wurde vor 280 Jahren gegründet

Als am 17. Juni 1722 der mährische Zimmermann Christian David und mit ihm die böhmisch- mährischen Flüchtlinge, die Anfang des 18. Jahrhunderts ihre Heimat verlassen mussten, den ersten Baum für die neue Siedlung Herrnhut fällten, konnten sie nicht ahnen, dass dieser Ort in der Oberlausitz einmal weltberühmt werden sollte. Zunächst fanden sie auf dem Gut Berthelsdorf ein Asyl, das dem Reichsgrafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760) gehörte; er hieß diese "Böhmischen Brüder" gastfreundlich als Glaubensgemeinschaft willkommen und stellte ihnen sogar Land zur Verfügung.
Die eigentliche Geschichte begann wesentlich früher, nämlich 1457 in Böhmen, als aus der reformatorischen Bewegung des Theologen Johann Hus, der 1415 in Konstanz als Ketzer verbrannt wurde, die "Brüder-Unität" entstand, die evangelische Kirche der "Böhmischen Brüder", wie sie auch genannt wurden. In den Grundlagen der Glaubensaussagen unterscheidet sich die Brüdergemeine nicht von anderen protestantischen Kirchen. So ist für ihre Gemeinschaft die Bibel die alleinige Quelle und Richtschnur des Glaubens, ebenso die drei altkirchlichen Glaubensbekenntnisse, die Bekenntnisse der Reformation, aber auch die Barmer Theologische Erklärung von 1934; sie gelten als Zeugnisse, die zum Glauben hinführen.
In kürzester Zeit erreichte die Ausstrahlungskraft dieser neuen Lebens- und Arbeitsform viele Menschen aus anderen Kirchen. "Spiritus rector" war nicht zuletzt der religiös eingestellte Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, der mit seinen besonderen Gaben zunächst sein eigenes Land evangelisieren ließ und mit seiner vom Pietismus geprägten Theologie nicht Frömmlertum und Engstirnigkeit ausstrahlte, sondern in einer jesuanischen Weite und Herzensfrömmigkeit den einfachen Landleuten um Herrnhut eine geistliche Heimat zu geben wusste. Die Gemeinde war für ihn der Ort, an dem Überzeugung glaubhaft umgesetzt und gelebt werden konnte. Anfeindungen rund um Herrnhut und in der gesamten Oberlausitz blieben allerdings nicht aus.
Christliche Glaubens- und Lebensgemeinschaft
Herrnhut wurde "geistliche Werkstatt" für seine Ideen des liturgischen Lebens, der seelsorgerlichen Praxis, der missionarischen Aktivitäten und des diakonischen Engagements. "Unter des Herrn Hut" gründete der Graf mit den Familien eine christliche Lebens- und Glaubensgemeinschaft, die bereits 1732, zehn Jahre nach ihrer Gründung, die ersten Missionare in die Karibik sandte. Weltweit wurde sie unter "Moravian Church" (Mährische Kirche) bekannt. Die Brüdergemeine wurde -entgegen den ursprünglichen Bestrebungen von Zinzendorf -zu einer selbstständigen Kirche; sie nimmt vielfältige missionarische Aufgaben wahr, unterstützt vor allem die Brüdergemeinen in Afrika, Asien sowie Mittel- und Südamerika.
Mit der Entstehung von Herrnhut entwickelte sich eine rege pädagogische und theologische Ausbildung, ein blühendes Wirtschaftsleben und aus dem Geist der Erweckungs- und Missionsarbeit eine lebendige Diakonie mit Alten- und Pflegeheimen, einem Krankenhaus, einer Kurklinik und Gästehäusern. Das 20. Jahrhundert brachte radikale Veränderungen und Neuordnungen für die Brüdergemeine mit sich, die dem Sparzwang wie dem Neuaufbruch ausgesetzt war. Von Anfang an begrüßte die Herrnhuter Brüder-Unität alle ökumenischen Anstrengungen, unterstützte die Ziele der ökumenischen Bewegung und einzelner ökumenischer Institutionen. Sie ist zum Beispiel Gründungsmitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen und der Konferenz der Europäischen Kirchen.
Geprägt vom Leben der Brüdergemeine
Das Jahr 1933 wurde von der Brüdergemeine in Herrnhut als "entscheidender Wendepunkt" erlebt: politischer und antireligiöser Druck lastete auf vielen Unternehmungen und Einrichtungen der Brüder-Unität. Das Ende des fatalen Krieges brachte aber trotz größter Zerstörung nicht das Ende für Herrnhut mit sich. Bis weit ins 19. Jahrhundert war Herrnhut eine "abgeschlossene Insel", ein geordnetes Ganzes und in sich homogene Gemeinde, in der ganzheitlich persönlicher idealistischer Geist wie lebendige Gemeinschaft vorhanden waren. Heute gehören etwa zwei Drittel des Ortes zu dieser Freikirche, die durch einen Vertrag mit der Evangelischen Kirche in Deutschland assoziiert ist. Das 3000 Einwohner zählende Städtchen ist geprägt vom einstigen Leben, den Traditionen, den Einrichtungen der Brüdergemeine wie der Johann-Amos- Comenius-Schule für Behinderte oder der Dürninger-Stiftung, die gerade in dem strukturschwachen Raum vielen Menschen Arbeit und Einkommen gibt.
Die 7200 deutschen Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine sind Teil der Europäisch-Festländischen Provinz der Evangelischen Brüder-Unität (weltweit 19 Kirchenprovinzen mit zirka 775 000 Mitgliedern) und gleichsam Sauerteig mit ihrer unverkennbaren diakonischen Arbeit am Schwachen und Hilflosen. Bezogen auf ihre Mitgliederzahl von 30 000 in der Europäisch- Festländischen Provinz ist dieses Engagement großartig.
Viele Menschen assoziieren mit dem Wort "Herrnhut" zuerst den "Herrnhuter Stern", der bereits 1821 in einem Internat der Brüdergemeine entwickelt wurde, oder mit den "Losungen", ein Andachtsbuch mit biblischen Texten für jeden Tag im Jahr, die seit 1731 in ununterbrochener Reihenfolge in über 40 Sprachen übersetzt erscheinen.
"Unter des Herrn Hut" ereignete sich bis heute "sichtbarer Segen" einer lebendigen christlichen Bewegung, in der Äußerliches verinnerlicht und eine lebensfrohe Spiritualität in einer Gemeinde erfahrbar wird.
Dr. J. Georg Schütz
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 25.07.2002