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Wenn Demenzkranke auf Erinnerungsreise gehen

Ein Besuch bei der Morgenrunde im Dresdner St.-Marien-Krankenhaus

Bunte Anregung für graue Zellen: Mandy Friedland zeigt die Anfangsbuchstaben der gesuchten Wörter.

Dresden (kh) -"Guten Tag hier in diesem Kreis." Es ist Donnerstag früh, 8.30 Uhr. In einem Speisesaal des Dresdner St.-Marien- Krankenhauses sitzen neun alte Frauen und Männer mit Ergotherapeutin Mandy Friedland im Kreis. Sie halten sich an den Händen und singen weiter: "Also wünschen wir, also wünschen wir einen schönen, guten Tag, einen schönen, guten Tag." Die Patienten kommen aus verschiedenen Stationen des Hauses. Sie leiden an Demenz, Alzheimer oder schweren Depressionen. Die tägliche Morgenrunde soll ihnen helfen, ihren Alltag zu strukturieren. Aber mehr noch: Sie will sie zu einer "lebendigen Erinnerungsreise" einladen, wie es Frau Friedland im Aushang formuliert hat.

Heute dreht sich alles ums Backen. "Jeder von Ihnen hat sicher im Leben gebacken", stimmt Frau Friedland die Patienten auf das Thema ein. Damit die alten Menschen auch an ihrer Mimik ablesen können, was sie sagt, spricht sie sehr deutlich. Dann lässt sie den Karton mit Küchengeräten, der bisher in der Kreismitte stand, reihum gehen. Einer nach dem anderen greift hinein und nimmt etwas heraus -erst das Nudelholz, dann das Rezeptbuch, die Rolle Backpapier, die Eieruhr, den Schlagbesen und die Alufolie. Das setzt sich so lange fort, bis die Kiste leer ist und jeder etwas in der Hand hält. So können die alten Menschen auch mit den Sinnen wahrnehmen, worüber Frau Friedland spricht.

"Durch Bewegung wird ebenfalls noch viel im Gedächtnis hervorgerufen", erläutert die Ergotherapeutin. Deshalb zeigt sie als nächstes einen Back-Tanz. Dabei dürfen alle sitzen bleiben. Getanzt wird nur mit den Händen. Die rühren und kneten, schlagen Eier auf und bewegen sich so locker, als würden sie Streusel über einen Kuchen streuen. Später werden einige Patientinnen diese Bewegungen noch mal ausführen, dann aber mit echten Zutaten. Denn Donnerstag ist Backtag im St.-Marien- Krankenhaus. Auch wer zu Hause mit Demenzkranken zusammenlebe, sollte sie in den Alltag mit einbeziehen, rät Mandy Friedland: "Ich denke, so ganz einfache Dinge gibt 's immer zu tun, ob 's den Tisch zu decken ist, zu backen oder zu kochen."

Doch bevor sich die Patientinnen im Krankenhaus ans Backen machen, überlegen sie gemeinsam mit Mandy Friedland, was es alles für Kuchen gibt. Dazu hat die Ergotherapeutin Kärtchen mit großen Buchstaben mitgebracht. Bei "A" denken die alten Leute zum Beispiel an Apfel- und Aprikosenkuchen. Bei "D" kommen ihnen natürlich der Dresdner Christstollen und die Dresdner Eierschecke in den Sinn. Mit "E" fängt die Erdbeertorte an. "Die hat meine Tochter immer schön gemacht", erinnert sich eine Patientin.

Mandy Friedland ist bewusst, dass Demenz eine Krankheit ist, die sich nicht aufhalten lässt. Sie kann diesen fortschreitenden Prozess höchstens ein wenig verzögern und versuchen, das, was an Erinnerung noch da ist, wach zu halten. Seit März lädt sie deshalb jeden Tag zu dieser Morgenrunde ein. Hohe Ziele knüpft Mandy Friedland nicht daran. Für die Ergotherapeutin ist es schon ein Erfolg, wenn Patienten sich nachher noch über das Gesagte unterhalten oder "einfach wacher in den Tag gehen", wenn es nach einer knappen halben Stunde heißt: "Die Zeit ist vorüber. Nun gehen wir wieder. Es war wieder schön. Auf Wiedersehn."

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 31 des 52. Jahrgangs (im Jahr 2002).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Freitag, 02.08.2002

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