Trotz aller Unkenrufe
"Ganz normale Familie" ist normal
Kennen Sie das? Man redet ganz allgemein über Familien und schon nach wenigen Sätzen stehen negative Erfahrungen im Vordergrund des Gesprächs. Scheidungen, sinkende Geburtenzahlen, allgemeine Bindungslosigkeit, Erziehungsunfähigkeit, Gewalt -all das sind Schlagworte dazu, wie Familienleben in der Öffentlichkeit meist wahrgenommen wird. Es ist hoffähig geworden, vom Niedergang der ganz normalen Familie aus Vater, Mutter und Kindern zu sprechen. Es erscheint suspekt, öffentlich von intakten Familien zu sprechen. Aber hält dieses Reden über Familien der Wirklichkeit stand? Einige kürzlich veröffentliche Zahlen des Thüringer Landesamtes für Statistik haben mich nachdenklich gemacht:
2001 lebten in Deutschland 80,6 Prozent der minderjährigen Kinder bei ihren Eltern und diese Eltern waren verheiratet. Obwohl die neuen Bundesländer hier vom gesamtdeutschen Trend abweichen: Auch in Thüringen leben knapp drei Viertel der bis 18-jährigen Kinder bei ihren verheirateten Eltern. Weitere zwölf Prozent leben mit den Eltern zusammen, diese sind aber nicht miteinander verheiratet. Die "ganz normale" Familie ist also rein statistisch trotz aller Unkenrufe immer noch das ganz Normale. Und auch der immer wieder genannte Trend zur Einkindfamilie ist gar nicht so eindeutig: In Thüringen wachsen zwei von drei Kindern mit Geschwistern auf. Etwa 20 Prozent der Kinder haben mehrere Geschwister.
Auch um die Ehe sieht es -nüchtern betrachtet -weit besser aus, als wir gemeinhin glauben. Im letzten Jahr konnten in Thüringen rund 6300 Paare ihre goldene Hochzeit feiern. Etwa 13 000 Paare waren 25 Jahre verheiratet -hatten also silbernes Ehejubiläum. Im gleichen Zeitraum wurden 4748 Ehe geschieden. Mal ehrlich: Hätten Sie gedacht, das es mehr goldene Hochzeiten gibt als Scheidungen? Überspitzt könnte man sogar sagen, dass rein statistisch die Chance, dass eine Ehe 25 oder 50 Jahre lang hält, größer ist als die Möglichkeit der Scheidung ...Diese wenigen Zahlen sollen den Blick auf die Probleme von und in Familien keineswegs verstellen. Sie sollen nicht in einer falschen Weise beruhigend wirken.
Vielmehr sollen diese Zahlen den vielen "normalen" Familien Mut machen. Angesichts der negativen öffentlichen Meinung fällt es nämlich oft schwer, auch die positive Wirklichkeit zu sehen und sie entsprechend zu würdigen. Ich glaube, Ehen und Familien sind auch heute weit besser als ihr Ruf. Die Sehnsucht gerade der Jugendlichen nach dieser Lebensform unterstreicht dies eindrucksvoll. Über 90 Prozent der Jugendlichen wünschen sich ein Leben in Familie.
Schließlich: Wenn wir in unseren Gemeinden Familien wahrnehmen, gilt es auch hier die "Normalen" nicht aus dem Blick zu verlieren. Es sind meist diejenigen, die wenig "Hilfsbedürftigkeit" ausstrahlen, keine sozialen Notfälle sind und dies auch nicht sein wollen. Oftmals bringen sich die "Normalen" bei Aktivitäten -von Tischmüttern bis zum Aufbau der Weihnachtskrippe -unauffällig ein. Deshalb sollte auch das kirchliche Eintreten für Familien nicht nur die sozial Schwachen meinen, sondern muss auch dieser "Mitte" gelten. Oft sind es nämlich die "ganz normalen" Väter und Mütter, die am Rande der Überforderung stehen. Ich glaube, dies ist die eigentliche Tragik von Familien heute.
Dr. Kurt Herzberg
Katholischer Familienbund,
Landesverband Thüringen
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 08.08.2002