Den Toten wieder ein Gesicht geben
In einem Caritas-Projekt spüren junge Leute jüdisches Leben in der Niederlausitz auf
Cottbus -Sie fielen schon manchem Kirchenbesucher der Christuskirche in Cottbus auf: Junge Menschen auf dem Pfarrhof, die vor dem Elisabeth-Haus stehen, aber nicht zu den Cottbuser Gemeinden gehören. Daraufhin angesprochen, gaben sie zur Antwort: "Wir sind eine Arbeitsgruppe der Caritas, die jüdisches Leben in der Lausitz erforscht." Sylvia Schulz reicht spontan eine Visitenkarte, die sie als Mitarbeiterin der Caritas ausweist. Ein Termin ist mit Projektleiter Hartmut Lauermann schnell vereinbart.
Der Saal des Elisabeth-Hauses gleicht einem Großraumbüro. Computer, Laptop, Aktenschränke, alte und neue Stadtpläne fallen sofort ins Auge. "Der grafisch dargestellte Stammbaum Abrahams nach dem ersten Kapitel des Matthäus-Evangeliums war eine der ersten gemeinsamen Arbeiten", erläutert Hartmut Lauermann ein großes Wandbild. Die erste Einarbeitungsphase hat das Team abgeschlossen: Beschäftigung mit der jüdischen Religion, mit Festen und Traditionen. In zwei Arbeitsgruppen werden nun die Themenbereiche NS-Zeit sowie der jüdische Friedhof, der seit 1907 besteht, durchforstet. Silvio Sackrow, 21 Jahre, Kaufmann für Bürokommunikation, bis zum Frühjahr arbeitslos, ist in einen dicken Wälzer über die Geschichte der Stadt Cottbus vertieft. Er arbeitet gerade die Zeit des Dreißigjährigen Krieges durch. Der älteste Nachweis eines Juden in Cottbus datiert allerdings aus dem Jahre 1464. Ein Jude mit Namen Jordan wurde, wie es heißt, der Stadt "zum Schutz" übergeben. Auch damals die Voreingenommenheit gegenüber dem Fremden. Petra Lehmann, 22 Jahre, arbeitslose Industriekauffrau, sucht in einem Kalendarium des Frauen-KZ Ravensbrück nach Spuren, die in die Lausitz führen. "Unter 3000 Inhaftierten sind 367 Jüdinnen", so ihre bisherige Recherche. Welche Lebenswege davon mit der Lausitz im Zusammenhang stehen, konnte sie noch nicht herausfinden. Aber im Cottbusser Stadtarchiv gibt es Deportationslisten.
Zusammengestellt hat Petra Lehmann bereits die Geschichte eines Gubener Arztes und seiner Familie, die bis nach Litzmannstadt, dem heutigen Lodz führt. "Das Cottbuser Stadtarchiv ist an der Arbeit der jungen Leute sehr interessiert", berichtet der Berliner Historiker Roman Lange, der die Arbeit begleitet und zum Team gehört. Und er ergänzt: "Dort lagern Akten zu diesem Thema, deren vollständige Aufarbeitung sicher fünf Jahre in Anspruch nehmen würde."
Anträge der Juden wurden abgeschmettert
Petra Lehmann berichtet über ihre bisherigen Erkenntnisse, darüber, wie in der NS-Zeit dicke Akten zu jedem einzelnen Juden angefertigt wurden: Ganze Familiengeschichten sind zusammengetragen, Anträge und Bittgesuche für die Heirat, Geschäftseröffnungen, Wiederanerkennung des Arierstatus. Und wie sie alle abgeschmettert wurden. Mit Religion habe sie sich vorher noch nicht befasst und mit dem Judentum schon gar nicht, gesteht Petra Lehmann. Das Arbeitsamt habe ihr im Frühjahr empfohlen, sich für diese Arbeitsgruppe bei der Caritas zu bewerben.
Sabine Schulz, 20 Jahre, Kauffrau für den Einzelhandel, gehört zur Gruppe Friedhofs-Aufarbeitung. Am Bildschirm bearbeitet sie Fotos von noch vorhandenen jüdischen Grabsteinen. "Namen und Lebensdaten sind in den meisten Fällen in deutscher Sprache eingemeißelt. Bibelzitate dagegen und andere Gedenksprüche immer auf Hebräisch", erklärt sie. In Zusammenarbeit mit der Friedhofsverwaltung wurde bereits die gesamte Grablage vermessen und dokumentiert. Projektleiter Lauermann erklärt diese Teilaufgabe so: "Mit der Arbeit soll den vielen anonymen Toten wieder ein Gesicht gegeben werden." So viel ist bereits sicher: Zwölf Cottbuser Juden haben den Holocaust überlebt.
Die Arbeit an dem Projekt dauert insgesamt zwei Jahre. Anders als durch sonst übliche Lehrgänge oder Umschulungen soll mit diesem Projekt jungen Menschen sowohl durch eigenständige als auch durch Teamarbeit Weiterentwicklung und Qualifizierung ermöglicht werden. So müssen sie zu den Teilbereichen Vorträge nach strengen rhetorischen Gesichtspunkten halten. Foto- und Filmarbeiten gehören ebenso zur Forschungsarbeit wie das Gestalten von Präsentationen, Flyern, Plakaten, Interviewführung und das Erstellen von Webseiten fürs Internet. Für nächstes Jahr ist eine Ausstellung in repräsentativen Räumen der Stadt vorgesehen. Mit einem selbst gedrehten Videofilm soll die Ausstellung ergänzt werden. Innerhalb des Bonner Caritas-Projektes Xenos erfolgt die finanzielle Absicherung durch den Europäischen Sozialfond, die Bundesministerien für Arbeit und Soziales sowie Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Bundesanstalt für Arbeit. Eine andere Gruppe arbeitet die jüdische Vergangenheit der Oberlausitz unter dem Dach der Caritas- Kreisstelle Görlitz auf. Dieses Projekt wurde jedoch nur für ein Jahr bewilligt.
Klaus Schirmer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 08.08.2002