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Jetzt beginnt es erst

Im Hochwassergebiet sind auch viele Pfarrgemeinden betroffen

Sonntag morgen in Dresden. Eigentlich hätten sich jetzt tausende katholische Christen aus dem ganzen Bistum in ihrer Bischofsstadt versammelt. Auf dem Schlossplatz vor der Kathedrale wollten sich zusammen mit dem Prager Kardinal Miloslaw Vlk ihre Wallfahrt feiern. Mit Gottesdienst und Veranstaltungen sollte an die sechs polnischen Märtyrer erinnert werden, die vor 60 Jahren in Dresden hingerichtet wurden und in der Stadt begraben sind. Im Schaukasten vor der Kathedrale hängen noch das Wallfahrtsplakat und der Einladungsbrief des Bischofs. Quer darüber der Hinweis: Wallfahrt fällt aus -wie so vieles, eigentlich alles in diesen Tagen der Hochwasserkatastrophe.

Die Kathedrale hat die Flut nicht so schwer getroffen wie die benachbarte Semperoper oder den Zwinger. Das Untergeschoss ist mit Wasser vollgelaufen. Davon betroffen sind auch die Grüfte des Fürstengeschlechts der Wettiner und der Medienverleih des Bistums. Aber Gottesdienst feiern ist möglich. Eine kleine Gemeinde hat sich versammelt. Vielen sind die Strapazen der letzten Tage anzusehen -seien es die Sorgen um die eigene Existenz oder Müdigkeit und Anstrengung, weil man tage- und nächtelang mitgeholfen hat, die Stadt vor den Wassermassen zu schützen -oft vergeblich. Zusammenrücken ist angesagt -auch in der Kathedrale, denn: Es gibt keinen Strom. Die Lautsprecheranlage ist nicht in Betrieb. Fehlender Strom ist auch der Grund, dass in der Dresdner Innenstadt an diesem Sonntagmorgen kein Glocken läuten. Statt dessen brummen die Notstromaggregate und die Wasserpumpen. Die Luft ist erfüllt von Dieselgeruch und von Staub -zumindest dort, wo das Wasser der ersten Flutwelle abgezogen ist und die Menschen schon mit dem Aufräumen begonnen haben.

Im Vergleich zum Vortag ist es insgesamt ruhiger geworden in der Stadt. Hubschrauber und Tornados fliegen nicht mehr so häufig über die Elbe, um eventuelles Treibgut zu sichten. Auch die Sirenen von Polizei, Rettungs- und Hilfsdienste sind seltener zu hören. Viele Helfer wurden in der Nacht verlegt, elbabwärts in die Regionen, denen das Schlimmste noch bevorsteht. Für Dresden ist dieser Sonntag der "Tag Eins" nach der Flut, denn in den letzten Stunden ist der Elbpegel gefallen, wenn zunächst auch nur wenige Zentimeter. Die Zeit der Angst und der Ungewissheit angesichts der immer und immer wieder nach oben korrigierten Vorhersagen scheint vorüber. Aber: "Jetzt beginnt es erst!", sagt Bischof Joachim Reinelt beim Gottesdienst und meint damit die gemeinsamen Anstrengungen, die nötig sind, um die Folgen der Flut zu beseitigen.

Was das heißt, kann noch niemand richtig einschätzen. Bischof Reinelt war in den letzten Tagen unterwegs in den betroffenen Regionen seines Bistums: in Freital und Grimma, in Meißen, Pirna und Heidenau. Nach Aue und Schwarzenberg wolle er sich noch auf den Weg machen. Der Bischof ruft sein Bistum auf, zu helfen -vor allem den betroffenen Familien. Niemand dürfe jetzt den Eindruck haben, dass er vergessen sei. Er erzählt von Begegnungen mit Menschen, die alles verloren haben, von Pfarrgemeinden, deren Gemeindeleben auf lange Zeit anders sein wird. Er berichtet aber auch von den vielen, die nicht lange diskutieren, sondern anfassen, wo es nötig ist. Besonders überzeugt hat ihn die spontane Hilfsbereitschaft der Jugendlichen. "Die Jugend packt an. Und sie macht sich dabei sehr, sehr schmutzig."

Zum Beispiel am nur wenige hundert Meter entfernten katholischen St. Benno-Gymnasium. Hier versuchen die Schüler zusammen mit ihren Lehrern und den Helfern Schlimmeres zu verhüten. Das steigende Grundwasser droht die tieferliegende Turnhalle in dem erst nach der Wende erbauten Schulgebäude anzuheben. "Die Turnhalle haben wir verloren", sagt Schulleiter, Jesuitenpater Frido Pflüger.

Die Jugend packt auch in ihrem eigenen Bistums-Jugendhaus in Schmiedeberg im Osterzgebirge. Hier hatte sich der kleine Bach Weißeritz innerhalb weniger Augenblicke in einen reißenden Strom verwandelt, berichtet Pfarrer Eckhart Wagner aus Dippoldiswalde, auf dessen Pfarrgebiet sich das Jugendhaus befindet. Zurückgeblieben ist eine Spur der Verwüstung. Häuser sind ganz oder teilweise eingestürzt oder unterspült. Andere sind mit Schlamm vollgelaufen, der jetzt mit Eimer, mit Schubkarren, manchmal sogar mit Schaufelbaggern entfernt wird. Der Bahndamm der Kleinspurbahn ist auf weiten Strecken weggespült. Und an der Straße, sofern sie noch befahrbar ist, türmt sich rechts und links das, was der Strom mit sich gerissen hat. Überall lodern Feuer. Die Leute verbrennen, was einmal ihr Hab und Gut war. Das Jugendhaus selbst scheint es nicht so schlimm getroffen zu haben. Und die jugendlichen Helfer haben schon einiges wieder aufgeräumt. Wann hier aber wieder frohes Jugendleben einzieht, ist fraglich. Die Teilnehmer des Euro-Jugendcamps, die von der Flut überrascht wurden, haben das Haus verlassen müssen. Die Veranstaltung konnte aber an einem anderen Ort fortgesetzt werden.

Auch in Meißen war es ein kleiner Bach, der verheerende Schäden unter anderem auf dem Gelände der katholischen Pfarrgemeinde angerichtet hat. Hochwasser haben wir immer wieder einmal, berichtet Pfarrer Heinrich Bohaboj. Also wurden, als es sich diesmal ankündigte, einige Vorkehrungen getroffen. "Wir meinten, dass dem Erdgeschoss und der Kirche nichts geschehen kann!" Plötzlich ging alles ganz schnell: "Wohl gegen 4.30 Uhr kam eine hohe Flutwelle." Bis in die Höhe von über einem Meter stand plötzlich alles unter Wasser. Wasser drang durch Türen und Fenster in die Gebäude ein. Drei Stunden später war das Wasser soweit abgeflossen, dass der Pfarrer sein Haus verlassen konnte. "Ein Bild des Grauens bot sich!" Überall hatte die Flut eine dicke zum Teil, ölige Schlammschicht hinterlassen. Möbel, Fußböden, Gewänder, Schriftstücke waren nicht mehr zu gebrauchen. Die vier Autos auf dem Pfarrgelände standen voller Wasser. "Der Schaden ist unermesslich!"

Inzwischen haben im Meißner Pfarrgelände viele Hände angepackt. Kirche, Gemeinderäume und Kinderhaus wurden ausgeräumt, Fußböden entfernt, der gröbste Unrat auf dem Pfarrgelände beseitigt. "Das Leben muss jetzt irgendwie weitergehen, wenn auch zunächst nur provisorisch. Für unsere Gottesdienste wurde uns dankenswerterweise die evangelische Lutherkirche zur Verfügung gestellt. Das Kinderhaus wird mit beengten Räumlichkeiten leben müssen und eine Gruppe soll in eine andere Einrichtung. Und das Büro zieht in ein Zimmer im Dachgeschoss des Pfarrhauses", so lauten Pfarrer Bohabojs Pläne. Sein blaues Auge, dass er sich bei den Aufräumarbeiten geholt hat, wird wohl lange verheilt sein, wenn in der Pfarrgemeinde wieder Normalität eingezogen sein wird. Dankbar ist er den vielen, die geholfen haben, die schlimmsten Folgen zu beseitigen. Sogar die Kinder der Gemeinde haben zugepackt. Sie haben sich vor allem um wichtige Pfarrunterlagen gekümmert, beispielsweise zwischen die Seiten der durchnässten Taufbücher Papiertrockentücher gelegt.

Auf den Pfarrhof in Meißen rollen zwei Autos. Die Insassen des einen kennt Pfarrer Bohaboj. Es sind Mitglieder der Wilsdruffer Pfarrgemeinde, für die er ebenfalls als Seelsorger zuständig ist. Sie haben Kaffee und Kuchen mitgebracht. Aus dem zweiten Auto steigen drei junge Leute, ausgerüstet mit einem kleinen Feldspaten. "Wo ist denn das Kinderhaus?", fragen sie. "Wir wollen helfen!" Der Pfarrer freut sich darüber, aber: "Das Gröbste haben wir bis gestern erledigt. Heute arbeiten wir hier nicht. Heute ist Sonntag!" Vom Pfarrer mit einem Tipp versehen, wo ihre Hilfe noch benötigt wird, machen sich die Drei wieder auf den Weg. Und Pfarrer Bohaboj geht mit den Wilsdruffern zum Kaffeetrinken in seine Wohnung, die von der Flut verschont wurde, weil sie im ersten Stock liegt. Das Gesprächsthema ist klar.

Matthias Holluba

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 0 des 52. Jahrgangs (im Jahr 2002).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 22.08.2002

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