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Kirche bei den Menschen

Seelsorge im Hochwassergebiet

Dessau / Dresden / Pirna / Wittenberg -"...und die Taube brachte einen Ölzweig ..." -unter diesem Thema stand am vergangenen Sonntag der ökumenischer Gottesdienst nach der Flutkatastrophe auf dem Dresdner Schlossplatz. Der Satz aus der Sintflutgeschichte gehört zu den häufig zitierten Bibelstellen in diesen Tagen. Der evangelische Landesbischof Volker Kreß etwa nimmt in der Predigt darauf Bezug und erzählt von drei Rosen in einem Garten in Grimma, der wenige Tage zuvor überflutet war.

Ölzweig. Rosenblüten. Hoffnungszeichen. Auch Norbert Büchner, katholischer Pfarrer von Pirna, beendet seine Predigt im ersten Sonntagsgottesdienst nach der Flut mit dem Hinweis auf das "Gras, das in unserer Stadt schon wieder wächst". Das sei ein wichtiges Zeichen. Genauso wichtig wie die vielen, die jetzt sagen: "Wir machen weiter. Wir packen das." Und so stellt sich in der Stadt, die eine Woche zuvor in Erdgeschosshöhe unter Wasser stand, in ganz kleinen Schritten wieder so etwas wie Normalität ein.

Dazu gehört auch, dass die Pfarrkirche wieder genutzt werden kann. Die zweite Kirche der Gemeinde, die Klosterkirche, hat es schwerer getroffen. Sie stand zweieinhalb Meter unter Wasser. Das einzige, was gerettet werden konnte, sind die Marienstatue und vielleicht ein paar Orgelpfeifen. Der Altar des Dresdner Künstlers Friedrich Press zum Thema "Guter Hirte" ist kaputt. Doch für Pfarrer Büchner bleibt es "unser Altar -auch wenn einigen Schafen der Kopf abgebrochen ist. Das ist ein Bild für unsere Situation."

Trotz dieser Kopflosigkeit seien die katholischen Christen in der Stadt gefordert, sagt Büchner. "Uns geht es -soweit ich den Überblick habe -trotz allem immer noch ganz gut. Deshalb: Macht die Augen auf! Guckt in eurem Umfeld, wer betroffen ist und Hilfe braucht", heißt sein Appell. Und er selbst tut das.

Seit zwei Wochen kümmert er sich zusammen mit vielen anderen fast rund um die Uhr um die betroffenen Menschen: Er war bei den Evakuierten im höher gelegenen Stadtteil Sonnenstein und half dort beispielsweise mit seinem Handy, dass viele wieder Kontakt mit ihren Angehörigen aufnehmen konnten. Er sprach mit einem Versicherungsmakler, der selbst abgesoffen ist -wie man hier sagt, wenn Wohnung oder Büro unter Wasser stand -und jetzt von seinen Kunden beschimpft wird, weil er sie falsch beraten habe. Er war bei den Menschen in den Orten der Sächsischen Schweiz, zu denen tagelang keiner gekommen war. "Was willst du hier? Was kannst du als Seelsorger tun?" Das haben er und seine Mitstreiter sich gefragt und eine Antwort gefunden: "Wir sind nicht hier, um zu reden oder irgendetwas zu verkünden -Seelsorge hier und jetzt heißt zuhören." Über die Schicksale erzählt Pfarrer Büchner wenig. Was er in den letzten Tagen gehört hat, ahnt man, wenn er im Gottesdienst sagt, "wir beten das Glaubensbekenntnis -stellvertretend auch für diejenigen, die das im Augenblick nicht beten können."

Auch Ulrich Reimann hat Situationen erlebt, "die einen innerlich versinken lassen". Reimann ist Ständiger Diakon in Wittenberg-Piesteritz. Er ist Kolpingbruder und gelernter Schlosser und bezeichnet sich selbst als Praktiker. "Wenn Hilfe gebraucht wird, kann ich nicht rumsitzen und nichts tun." Und so ist er -wie viele Jugendliche und andere Gemeindemitglieder -seit dem 15. August als Helfer unterwegs. In den ersten Tagen galt es: Sandsäcke füllen und Deiche sichern. Als Reimann am dritten Abend nach Hause fuhr, "waren wir eigentlich ganz zuversichtlich. Aber wir haben uns blenden lassen. Die große Welle war noch nicht da." Und als kurz vor Mitternacht die Sirene ging, wusste er: Der Deich ist gebrochen. "Da braucht man eine Weile, um mit sich und Gott wieder ins Reine zu kommen."

Am Sonntag herrschte Chaos und das Wasser lief. Und dann begann die Stimmung zu kippen: Die ersten Anschuldigungen gab es. Die Politiker seien Schuld, die Krisenstäbe hätten nicht funktioniert. Was ist jetzt Aufgabe der Kirche? Der katholische Pfarrer von Wittenberg, Dr. Paul Christian, appellierte in der Tageszeitung an die Einwohner, die Stimmung des Zusammenhaltens aus den Vortagen nicht ins Gegenteil zu verkehren. Und Diakon Reimann überlegte mit seinen Kolpingbrüdern, was sie als Sozialverband tun könnten. Klar, dass jetzt schnelle praktische Hilfe nötig war. Ein Kleintransporter wurde mit Hochdruckreiniger, Nasssauger, Notstromaggregat und Werkzeug ausgestattet. Reimann und seine Mitstreiter machten sich auf den Weg. Die allein stehende Frau, die mit ihrer alten Mutter zusammenlebt und der sie von morgens um neun bis abends um fünf geholfen haben, das Anwesen, das 70 Zentimeter unter Wasser stand, aufzuräumen, ist ein Beispiel von vielen.

Die Hilfsbereitschaft rief mitunter Verwunderung hervor, berichtet Reimann. "Wir wollen als Kirche den betroffenen Menschen zeigen: Ihr seid nicht allein, es gibt andere, die euch helfen." Diese praktische Hilfe steht zurzeit noch im Vordergrund. "Die Leute wollen retten, was zu retten ist." Wenn das aber vorbei ist, kommen auf die Seelsorger neue Aufgaben zu. Schon jetzt haben sie sich in Listen eigetragen als Ansprechpartner, wenn Menschen das Erlebte im Gespräch verarbeiten müssen.

"Das ist doch alles sinnlos. Wir haben uns gequält und gemüht und trotzdem ist der Deich gebrochen ..." Diese Erfahrung der Vergeblichkeit hört Propst Dr. Gerhard Nachtwei in Dessau zurzeit oft. Auch hier waren trotz tagelanger Mühen ein Damm und ein Notdamm gebrochen, und das Wasser hat einen Stadtteil komplett überflutet. "Als Seelsorger kann ich den Menschen nur zuhören. Ich kann ihnen sagen, dass ich sie verstehe. Ich füge aber hinzu: Es war trotzdem sinnvoll. Und ich glaube, wenn wir uns anstrengen, dann ist Gott auch auf unserer Seite." Eine Begegnung, die ihn und seine evangelischen Kollegen in dieser Hinsicht nachdenklich gemacht hat, war die mit den Feuerwehrleuten aus dem Stadtteil. Sie haben pausenlos andere gerettet, während das Wasser in die eigenen Häuser lief.

Auch in Dessau ist jetzt die Zeit nach der Flut angebrochen. Für die Kirchen heißt das vor allem, die Hilfsbereitschaft mit zu koordinieren. "Unsere eigentliche Aufgabe in den letzten Tagen aber war es, die Menschen wieder ins Gespräch miteinander zu bringen", sagt Nachtwei und meint damit vor allem die Einwohner des überfluteten Stadtteils. Damit sie ihren Frust ablassen konnte, hatten die Kirchen zu einer Einwohnerversammlung eingeladen. "Das war fast wie in Wendezeiten, 900 Leute in der Kirche und eine ziemlich angeheizte Stimmung", berichtet Nachtwei. Trotz Befürchtungen ging es gut. "Die Leute sind zufriedener gegangen. Sie haben sachliche Informationen bekommen und auch etwas Hoffnung, weil deutlich wurde, dass die ganze Stadt beim Wiederaufbau helfen will."

Ein Zeichen dafür war das von den Kirchen organisierte Benefizkonzert mit einer Tanzgruppe und einem Chor aus der russischen Stadt Tutajew, die eigentlich zum Sachsen-Anhalt-Tag auftreten wollten. Jetzt sangen und tanzten sie unter dem Motto "Eine Stadt hält zusammen" in der Dessauer Marienkirche. "Eine Stadt hält zusammen" muss auch das Motto für die nächste Zeit bleiben, sagt Nachtwei: "Die meisten Menschen in Dessau sind verschont geblieben. Dafür dürfen wir dankbar sein. Aber wir dürfen nicht zur Tagesordnung übergehen. Denn wenige sind Opfer geworden und dadurch sind es mehr, die helfen können und müssen."

Matthias Holluba

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 0 des 52. Jahrgangs (im Jahr 2002).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 29.08.2002

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