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Personalkarussell im Bundestag auf Touren

Prominente Köpfe gehen, aber Bundestag bleibt mehrheitlich ein "christliches Parlament"

Berlin - Mit Blüm, Geissler, Süssmuth und anderen verlassen prominente Politiker nach der Wahl den Bundestag, die auch wegen ihres Glauben und ihrer Auseinandersetzung mit kirchlichen Fragen bekannt waren. Doch das neue Parlament wird nach der Wahl wegen des Weggangs der bekannten Köpfe keineswegs weniger katholisch oder christlich sein. Zumindest was die offizielle Statistik angeht. 63 Prozent der Abgeordneten sind zur Zeit Mitglied einer Kirche. Das ist knapp unter dem Schnitt in der Gesamtbevölkerung, der bei 65 Prozent liegt. Und unter den Abgeordneten, die das Hohe Haus sicher verlassen werden, sind keineswegs - anteilig gesehen - besonders viele Kirchenmitglieder.

Der Trend des Parlaments geht nicht in Richtung Kirchenaustritt. Schon vor 30 Jahren lag der Anteil der konfessionell gebundenen Abgeordneten auf heutiger Höhe bei knapp Zweidrittel (65 Prozent). Das heißt: Gemessen an der gesellschaftlichen Entwicklung ist das Parlament eher ein relativ stabiler Ort der Kirchlichkeit. Die Sozialdemokraten holen sogar auf. Während 1972 nur 34 Prozent der Parlamentarier sich zu einem Glauben bekannten, sind es 2002 schon 48 Prozent.

Wenn es nur nach der Statistik ginge...

Die Zahlen zeigen, dass die ideologische Grenze zwischen SPD und den Kirchen in den letzten drei Jahrzehnten durchlässiger geworden ist. Bei der FDP liegt der Anteil konfessionell gebundener Parlamentarier seit 1972 stabil bei 42 bis 43 Prozent. Bei den Grünen hingegen sind die Kirchenmitglieder deutlich in der Minderheit (34 Prozent) - trotz prominenter katholischer Köpfe wie Christa Nickels und Andrea Fischer. Die ehemalige Bundesgesundheitsministerin, die in der Stammzellendiskussion die Position der katholischen Kirche unterstützt hat, scheidet nach der Wahl aus dem Bundestag aus. Und sogar bei der PDS gibt es Christen. Drei Abgeordnete von 36 geben eine Kirchenmitgliedschaft an (8 Prozent). Wenn es nur nach der Statistik ginge, gäbe es erst recht keinen Grund, der CDU das "C" zu nehmen. 95 Prozent der CDU-Abgeordneten sind heute noch Mitglied einer Kirche. Unter den 72 Abgeordneten, die nach der Wahl sicher ausscheiden werden, ist der Anteil der Christen entsprechend hoch. Aber es gibt keinen Trend, der wegführt von den Kirchen, zumindest nicht von der kirchlichen Zugehörigkeit. Vielmehr ist die CDU-Fraktion immer noch viel "kirchlicher" als der Rest der Gesellschaft. "Wer Mitglied einer C-Partei ist, der gehört auch einer Kirche an", sagt Hermann Kues, Kirchen-Beauftragter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Und das sei auch in Zukunft so.

Aber Mitgliedschaft heißt natürlich noch nicht Engagement. Da hat sich die eigentliche Veränderung vollzogen. "Bestimmte Selbstverständlichkeiten sind verschwunden", meint Kues. Ein Glaubensbekenntnis ziehe nicht mehr so selbstverständlich ein politisches Engagement nach sich und umgekehrt fußt das Engagement nicht mehr unbedingt auf Glaubensüberzeugungen - schon gar nicht auf kirchlicher Lehre.

U-Boot-Christen bei der SPD

"Die Kirchen sind nicht mehr Rekrutierungsfeld der Politik", so erklärt es Burkhard Reichert, Fachmann für Kirchenfragen bei den Sozialdemokraten. Auf der anderen Seite sieht er für seine Partei eine deutliche "Entkrampfung" des Verhältnisses zu den Kirchen. Früher seien sie oft ideologischer Gegenpart gewesen, heute seien die Kirchen ein wichtiger Gesprächspartner. Und Reichert weist zudem auf die U-Boot-Christen bei der SPD hin. Viele geben ihre Konfession einfach nicht an. Deswegen muss die Statistik mit Vorsicht gelesen werden.

Kirchenmitgliedschaft vielleicht sogar eine Last

Beispiele für prominente Protestanten seien früher Jürgen Schmude und heute Margot von Renesse, die aber ihre Kirchenmitgliedschaft aus prinzipiellen Erwägungen im offiziellen Bundestagshandbuch nicht kundtaten. Kirche sei Privatsache, so die einst vorherrschende Überzeugung. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Abgeordnete, die ihre Mitgliedschaft zwar angeben, aber eigentlich keine Beziehung mehr zu Kirche und Glaube öffentlich zeigen. Kirchenmitgliedschaft ist offenbar kein Pfund mehr, mit dem es sich wuchern lässt, vielleicht eher eine Last.

Heinz Schemken (CDU) ist Bundesvorsitzender des Kolpingverbandes mit 280 000 Mitgliedern. Seit 20 Jahren sitzt er im Bundestag. Er sieht die Einflussmöglichkeiten für kirchliche Verbände eher schwinden. "In der Fraktion stehen nicht mehr alle auf und hören aufmerksam zu, nur weil der Kolpingvorsitzende redet", sagt er. Das sei früher anders gewesen. Schemken beklagt sogar, dass heute "Argumente weniger wert sind", nur weil sie aus einer bestimmten Ecke kommen. Dennoch hält er die Arbeit des Kolpingverbandes im Parlament für wichtig. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag will er die 50-köpfige Kolping-Truppe im Parlament betreuen. "Vielen fehlt heute das christlich-soziale Empfinden, das von der Basis kommt", sagt er. Vielmehr würde Politik immer theoretischer und pragmatischer gestaltet. Blüm habe sich in Polen nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft hingestellt und gerufen "Marx ist tot und Jesus lebt!" Diese leidenschaftlichen Zeiten sind vorbei.

Hermann Kues trauert diesen so genannten Herz-Jesu Marxisten, wie beispielsweise Blüm bezeichnet wurde, nicht nach. "Soziale Probleme lassen sich in dieser Weise heute nicht mehr darstellen." Der Klassenkampf, auch der christlich motivierte, sei vorbei. Vielmehr müssten auch Christen wieder die Verantwortung und Freiheit des Einzelnen betonen und für eine Modernisierung des Wohlfahrtsstaates eintreten. Deswegen hält Kues auch den Generationswechsel für wichtig und befürchtet keinen Einbruch auf der katholischen Flanke durch den Weggang der charismatischen Köpfe.

Kues kämpft zudem auch an einer anderen Front. Nämlich nach innen. Die hohe Zahl der Kirchenmitglieder dürfe nicht davon ablenken, dass der Abstand der Politiker zu den Kirchen wachse und umgekehrt. "Die Kirche ist zu sehr auf Distanz zur CDU gegangen", beklagt er. Das sei weder für die Kirche noch für die CDU "ganz risikolos". Kues nennt das Verhältnis der CDU zu den Kirchen eine "Überlebensfrage" für seine Partei.

Volker Resing

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 38 des 52. Jahrgangs (im Jahr 2002).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 19.09.2002

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