Reform ist gesellschaftliche Aufgabe
In Deutschland sind die Bildungsprobleme lange ignoriert worden / Eine Veranstaltung in Erfurt
Erfurt (as) -"Wo liegt eigentlich Pisa?" Eine zweideutige Frage, wie der Leiter der Schulabteilung im Bischöflichen Ordinariat Erfurt, Martin Fahnroth zugibt. Aber seit den schlechten Ergebnissen deutscher Schüler bei der so genannten Pisa-Studie im Dezember des vergangenen Jahres hat sich eine "gewisse Ratlosigkeit" bei Eltern, Lehrern und Schülern breitgemacht. Zur Klärung wollte deshalb eine Veranstaltung in der Erfurter Edith- Stein-Schule am 12. September beitragen, zu der das Katholische Forum und die Schulabteilung eingeladen hatten. Dass das Problem den Menschen auf den Nägeln brennt, zeigte die Beteiligung an der Veranstaltung -die Aula war bis auf wenige Plätze gefüllt.
Worin besteht nun die allgemeine Verunsicherung? Das Irritierende an der Studie ist, dass sie irritierend ist, meint der Referent des Abends, Michael Winkler, Pädagogikprofessor an der Uni in Jena, lakonisch. Die Studie verfolge "kein emphatisches Interesse an der Bildung", die die Qualität der Bildungssysteme in den einzelnen Ländern untersucht. Vielmehr handele es sich um eine Untersuchung am "Kapital Mensch", die auf wirtschaftliche Effizienz der Bildung abziele. Aus dieser Perspektive, so Winkler, relativieren sich die Ergebnisse. Dennoch: Kein Grund, sich zurückzulehnen, denn für Deutschland ist das Ergebnis deswegen alarmierend, weil die Probleme, die hier zutage treten, bekannt sind, aber lange ignoriert wurden. Der Zusammenhang von Bildungsstand und Migration zum Beispiel oder das starke Gefälle bei starken und schwachen Schülern. "In Deutschland gelingt es immer weniger, Migrantenkinder mit elementaren Basiskompetenzen auszustatten", kritisiert Winkler. Besorgnis erregend sei zudem die Abhängigkeit von Bildungsniveau und sozialer Herkunft. "Die zunehmende Armutssituation bei Familien und Kindern zementiert Lebensschicksale."
Winklers Thesen zur Beseitigung des Bildungsnotstandes lesen sich dann auch wie ein Hilfeschrei an die Politik, die in seinen Augen versagt hat. Eine längst fällige Bildungsreform müsse als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen werden. Ein besonderer Kritikpunkt: die fehlenden materiellen und personalen Ressourcen. "Wir brauchen Geld für Bildung. Aber wir brauchen auch eine sehr besonnene Debatte darüber, wofür wir dieses Geld ausgeben."
Die anschließende Podiumsdiskussion mit Schüler-, Lehrerund Elternvertretern versuchte, den praktischen Problemen zu Leibe zu rücken. Sozial gefährdete Gruppen, so Winkler, müssten stärker von der Schule aufgefangen werden. Stichwort Ganztagsschulen. "Was ist aber mit denen, die Probleme mit der Schule oder Freundeskreise außerhalb der Schule haben?", fragt der Schülersprecher der Edith-Stein-Schule, Adrian Kleinheyer, unter dem Beifall des Publikums. Ganztagsschulen müssten Angebot, nicht Verpflichtung werden. Ähnlich argumentiert die Vorsitzende der Elternvertretung, Gabriele Schröter. Die Erziehung ihrer Kinder wolle sie nicht allein der Schule überlassen.
Ein weiterer Punkt: Das Mitbestimmungsrecht und eine freiere Gestaltung der Lehrpläne. Bildung gelinge nur als ein Vorgang, den die lernenden Subjekte -also Schüler -selbst steuern, lautet Winklers These. Bildung sei deshalb mit Mitwirkung verbunden. Das sei punktuell möglich, erklärt der Direktor der Edith-Stein-Schule, Siegfried Schnauß. Aber man sei auch an Rahmenbedingungen gebunden. Vielmehr müsse man darüber reden, was Schule leisten kann und leisten muss. Bei aller Kritik am Bildungssystem in Deutschland: Die Ergebnisse der Pisa-Studie haben das ausgelöst, was vorher fehlte: eine lebendige Debatte über die Bildung.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 26.09.2002