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"Wer gegen uns steht, wird bestraft"

In einem neuen Buch erzählen Menschen, warum sie die DDR verlassen haben oder geblieben sind

Leipzig / Weimar -"Wir bleiben hier". Das war nach dem Slogan "Wir sind das Volk" wohl die wichtigste Aussage der Leipziger Montagsdemonstrationen im Wendeherbst 1989. Die Botschaft war nicht nur ein Bekenntnis zur eigenen Biografie, sondern für viele ein Versprechen, das marode Land wieder aufzubauen.

Nicht jeder dachte so: Ausreiseanträge und "Republikflucht" gehörten zum DDR-Alltag wie die Internationale oder das blaue Halstuch. Schließlich war der Exodus tausender DDR-Bürger im Sommer 1989 die Initialzündung für die Revolution, wenn er auch ganz sicher nicht der Grund war. Viele wollten später wirklich bleiben, konnten es aber nicht, vor allem aus beruflichen Gründen. Und das ist die Tragik des deutschen Alltags heute: Die Entwicklung im Osten stagniert, während es im Westen auch nicht so richtig weitergeht. Haben wir die Einheit falsch angepackt? -

Oder war und ist es Strategie, was geschieht? Zumindest vor und kurz nach der Wende hat es Menschen in Deutschland gegeben, die den Osten freiwillig verließen, diese Entscheidung unabhängig von ökonomischen Zwängen getroffen hatten.

Lebenszeugnisse: Zwischen Hoffen und Bangen

In einer Edition des Weimarer Wartburg-Verlages berichten jetzt 18 Autoren über ihre Beweggründe, weggegangen oder dageblieben zu sein. "Wenn der Morgen einen neuen Tag verspricht" lautet der etwas vollmundige Titel des Buches. Herausgegeben hat das Werk der Dresdner Diakon Gottfried Hänisch, der als 14-Jähriger die Zerstörung seiner Heimatstadt Dresden erlebte, nach Schule, Studium und kirchlicher Ausbildung in verschiedenen leitenden Positionen der evangelischen Kirche arbeitete. Hänischs Band vereint persönliche Lebenszeugnisse, die unabhängig von politischer Färbung über eigene Erfahrungen berichten -zwischen Resignation und Zuversicht, zwischen Hoffen und Bangen. Etwas mehr als zwölf Jahre sind seit den letzten Ereignissen vergangen -zu kurz, um Distanz zu gewinnen, zu kurz, um die Geschichten zur Geschichte zu machen. Dennoch geben sie einen Einblick in das Denken und Fühlen zerissener, wartender, ängstlicher Menschen, die es einerseits nicht mehr aushielten, andererseits mit ihrer Heimat tief verwurzelt waren. Genauso beeindruckend wie die Weggeh- sind die Bleibegeschichten.

Zum Beispiel die von Christian Dertinger, dessen Eltern, zunächst hohe DDR-Funktionäre, bereits 1953 verhaftet wurden. Christians Kindheit hätte eine wunderschöne, sorgenfreie werden können. Wohnen in einer geräumigen Villa mit großem Garten in märkischer Landschaft -"viel Ginster und Kiefernduft begleiteten meine Sinne". Dann die Verhaftung -Leute klopften an die Haustür, viele Stimmen waren zu hören. "Meine Mutter zeichnete ein Kreuz auf meine Stirn. Dann wurde sie von der fremden Frau aus dem Zimmer gedrängt. Fast acht Jahre sollte es dauern bis ich meine Mutter wiedersah". Christian muss seinen Namen wechseln und hieß von nun an Müller. Auf die Frage, wo seine Eltern sind, bekommt er zur Antwort: " ... es gibt viele Menschen, die das Alte behalten wollten ... Aber wir Kommunisten lassen uns nicht behindern. Wer gegen uns steht und arbeitet, wird bestraft und eingesperrt." Dertinger sieht seine Familie wieder, studierte später Theologie in Erfurt, wird dann Elektroingenieur. Aber sein Leben war begleitet von Gängeleien, ob in der Schule oder bei der Armee. "Christliches Engagement war reaktionär und eines Oberschülers nicht würdig", wurde ihm gesagt. Warum er mit seiner Familien nicht in den Westen ging? "Wir wollten nicht, denn wo wir unseren Platz behaupten, ist kein Platz für totalitäre Bedrücker."

Eine Bleibegeschichte erzählt auch der katholische Wirtschaftsmathematiker aus Halle, Friedrich Rebbelmund. Ein Leben in der Nische, in der Angst, zum Beispiel als ein Sohn den Dienst mit der Waffe verweigerte. Warum hiergeblieben? Es gibt, so Rebbelmund, keine hehren Antworten, nur die Erinnerung an die Wärme und Zuneigung der Wegbegleiter.

Die neue Zeit brachte neue Probleme, stellte neue Anforderungen. Die Leipzigerin Eva Edith Bachmann resümiert am Ende ihres Beitrages: "Zwölf Jahre danach. Wir, die Dagebliebenen. Das ist eine neue Geschichte. Eine Geschichte voller Wirren, Zweifel, Freude und Leid ... Eine Geschichte, die noch nicht aufgeschrieben wurde."

Andreas Schuppert

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 44 des 52. Jahrgangs (im Jahr 2002).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 31.10.2002

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