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Lutherland in der Krise?

Die evangelische Kirche im Kernland des Protestantismus steht vor neuen Herausforderungen

Luther und seine Geburtsstadt: Ein Denkmal erinnert mitten in Eisleben an Martin Luther, der hier geboren wurde. Doch wie können die geschichtsträchtigen Orte wieder belebt werden? Vor dieser Frage steht die evangelische Kirche heute in ihrem Kernland.

"Ein Pfarrer müsste heutzutage am besten Bauingenieur sein, eine Banklehre haben und außerdem noch Psychotherapeut und Sozialarbeiter gelernt haben", so stöhnte kürzlich ein Seelsorger in einem Dorf im Mansfelder Land. Es ging um eine Reportage über die denkmalgeschützte romanische Kirche am Ort, die zweite Stufe der Sanierung steht an. "Eigentlich habe ich keine Zeit", hatte der Pfarrer schon bei der Terminabsprache am Telefon gesagt.

Und in der Tat, ein Blick ins Arbeitszimmer zeigt: Hier geht es rund ...Der Mann scheint in dem ganzen Bürokram, der sich auf seinem Schreibtisch türmt, zu ersticken. Bauanträge für weitere sanierungsbedürftige Dorfkirchen in seinem Pfarrsprengel warteten darauf, dass er sie ausfüllen solle, sagt er. Das rote Licht auf dem Anrufbeantworter blinkt permanent. "Wahrscheinlich Frau P. oder Herr C. Beiden geht es seelisch ganz schlecht, ich war öfter dort -aber ich fühle mich so wenig kompetent, sie brauchten eigentlich jemanden, der ganz für sie da ist. Außerdem habe ich die Predigt für die drei Gottesdienste am Sonntag noch nicht gemacht -und vorher sind noch zwei Beerdigungen und Konfirmandenunterricht, ich komme gerade vom Konvent, morgen ist Regionalbeirat, ein Taufgespräch steht an und in einer Gemeinde wollen sie einen Kirchbauverein gründen, da müsste ich auch hin".

Da klingelt es an der Tür: "Herr Pfarrer, wie ist das nun mit den Kuchen für das Gemeindefest?", will eine Frau wissen. "Sie müssen entscheiden, wer welche backen soll. Die Frauen sind schon ungeduldig." -"Haben Sie denn keine zuverlässigen Leute im Gemeindekirchenrat? Können Sie denn nichts abgeben in andere Hände, die Bausachen und den Besuchsdienst zum Beispiel?" Die Frage stellt sich von selbst angesichts seiner Not. "Naja, theoretisch schon, aber in der Praxis ...Eigentlich müsste ich zumindest die Besuche bei Kranken und zu den Geburtstagen über 70 selbst machen, die erwarten das. Aber meine Dörfer liegen ja kilometerweit verstreut, elf Kirchtürme."

Am folgenden Sonntag ist die "Wahl der Sieben" aus der Apostelgeschichte (Kapitel 6) an der Reihe. "Ja, wenn ich solche Leute hätte wie Stephanus, Philippus, Nikanor und die anderen, dann könnte ich auch ganz "beim Gebet und beim Dienst des Glaubens bleiben", seufzt der Pfarrer.

Gedanke vom Gottesvolk auf Wanderschaft

"Das Denken der Leute hat noch nicht umgeschaltet von amtskirchlicher Betreuung zu mobiler christlicher Gemeinde, zum Annehmen des Gedankens vom ,Gottesvolk auf Wanderschaft'", sagt Sebastian Bartsch (38), selbst Gemeindepfarrer in Hettstedt im Kirchenkreis Eisleben und Beauftragter für Ökumene und Zeugnis und Dienst auf kreiskirchlicher Ebene. "Die DDR-Kirche war eine Individualkirche mit starker Betreuung, damals hatte ein Pfarrer maximal vier Gemeinden zu versorgen, heute sind es zwölf." Mehr Leute seien damals auch nicht in den Gottesdiensten gewesen, aber "sie fühlten sich als die letzten Gerechten", mit "eisernem Glauben" -und für sie ist es heute frustrierend, "dass der Pfarrer nicht mehr ganz für sie da ist." Missionarische Aufgaben wurden damals nicht gesucht und werden auch heute nicht wahrgenommen, "weil es dafür keine funktionierenden Strukturen gibt".

In früheren Jahrhunderten waren die Dorfkirchen zuerst Klöstern, dann den Landesherren oder den Gutsbesitzern in Verantwortung gestellt, der Patron hatte sich um die Bauangelegenheiten zu kümmern. Das entfällt heute -aber die Erwartungshaltung an Kirche bleibt: Wo das Haus schon verwahrlost ist, kann es mit dem Inhalt auch nicht weit her sein.

Die Kirche muss im Dorf bleiben

"Viel zu viel Kraft geht bei den Kirchbauten drauf", stöhnen die Pfarrer, "aber so wie die Bude ausschaut, so ist auch die Meinung darüber im Lande". Fördervereine für die Bausanierung bilden sich, in denen sich Menschen engagieren, die allenfalls Weihnachten zum Gottesdienst kommen -aber "die Kirche muss im Dorf bleiben". "Das wäre ja auch möglich, selbst die Gottesdienste in jeder Dorfkirche vor den wenigen Leuten, wenn es ein Netz von Lektoren gäbe, die ,mündiges Christentum' vertreten, ganz im Sinne Luthers, und Lesegottesdienste halten", meint Sebastian Bartsch, der für die Lektorenschulung zuständig ist. Manche Dörfer bekommen auch geeigneten Zuzug aus den Städten, aber mit der Akzeptanz der Lektoren sieht es nicht so gut aus, sogar unter Pfarrern nicht. "Fast möchte man fordern, ein Pfarrer bekommt keine Urlaubsgenehmigung, wenn er nicht mindestens zwei Lektoren in seinen Gemeinden einsetzt." "Selig sind die Beene, die vorm Altar stehn alleene", diese Überzeugung gilt es behutsam abzubauen.

"Nun stellt sich die Frage: Wollen wir Protestanten konzentriert an die Aufgaben gehen, die stehen: Den Leuten ein Wochenende und Freizeitangebot zu bieten hier in einer Gegend, die einen gänzlichen Traditionsabbruch hinter sich hat und in der es große Ressentiments gegen Kirche gibt?", fragt Sebastian Bartsch. Kirche, so ist im Gespräch mit der kirchenfremden Mehrheit herauszufinden, das ist synonym für "preußische Erziehungsanstalt, graue Kittel, strenge Mienen, erhobener Zeigefinger". Kirche, das sind die Kreuzzüge und "Wein trinken und Wasser predigen". Kirche, das sind schwarze Talare. Richter, Anwälte, Pfarrer -alles Leute, die kraft des Amtes immer Recht haben wollen.

Alte ideologische Minen, zu DDR-Zeiten mit ebenfalls preußischer Gründlichkeit gelegt, sind in den Köpfen schwer zu entschärfen. So sind die Ressentiments unter angestammtem pädagogischem Personal riesengroß, wenn es darum geht, dem Wunsch aus der Elternschaft oder auch von Kommunen nachzukommen, Kindergärten und Schulen in konfessioneller Trägerschaft einzurichten. Auch dieser Wunsch kommt selten aus Glaubenserwägungen, sondern einfach daher, weil privaten Konfessionsschulen ein guter Ruf vorausgeht, was Bildung allgemein betrifft.

Ein Kloster vor den Toren von Luthers Geburtsstadt

Und mitten in dieser Strukturkrise steht die evangelische Kirche plötzlich vor der katholischen Herausforderung "Kloster Helfta". Die Wiedergründung des Zisterzienserinnen-Klosters aus vorreformatorischer Zeit vor den Toren von Luthers Geburtsstadt Eisleben hat Furore gemacht. Vor allem, weil die Angebote des Klosters offensichtlich Bedürfnisse unserer Zeit erfüllen, die brach lagen: "Auf den Weg nach innen" kann sich begeben, wer das wiedererbaute Kloster besucht, während in den Eisleben Lutherstätten und auch den Kirchengemeinden, so sieht es jedenfalls aus, schlicht Geschichte verwaltet wird. Der Andrang auf die Angebote des Klosters wirft die Frage auf: Welche Schwergewichte kann die Lutherstadt selbst setzen? Ist die Botschaft Luthers, die ein mündiges Christentum beinhaltet, vielleicht antiquiert? "Wollen das die Menschen überhaupt -ein mündiges Christentum? In einer Zeit, wo die Wahlbeteiligung sinkt, wo sich eine Kaffeefahrtenmentalität breit macht? Eigentlich wollen die Leute, dass jemand für sie denkt und ihnen alles abnimmt.", sinniert Sebastian Bartsch. "Und dann bekommen sie von uns dauernd Antworten auf Fragen, die sie gar nicht gestellt haben, weil es nicht ihre Fragen sind."

Sprache der Kirche wird nicht mehr verstanden

Vorwiegend Intellektuelle sind die Aktiven, vor allem in den Stadtgemeinden im Kirchenkreis, also Eisleben, Hettstedt, Sangerhausen. Die Sprache der Kirche wird von der Mehrheit nicht mehr verstanden, selbst die Sprache der Glocken nicht. Als sich kürzlich bei der Hochwasserkatastrophe die Hettstedter Gemeinde entschloss, stündlich zu läuten, wurde das buchstäblich überhört. Früher hätte jeder verstanden, dass etwas Besonderes geschehen sein muss.

Mündige Christen, Leute, die von ihrer Art überzeugend, authentisch und ansteckend wirken, wünscht sich Pfarrer Bartsch als ehrenamtliche Mitarbeiter und steht damit nicht allein. "Die geschichtlichen Orte wie die Lutherstätten müssten belebt werden, Begegnung dort stattfinden." Ansätze sind da, ein Förderverein zur Wiederbelebung der Alten Superintendentur im Schatten von Eislebens Hauptkirche St. Andreas hat sich gebildet. Die Idee vom "mobilen Gottesvolk" unterstützen könnte auch eine andere Initiative: Der mitteldeutsche Zweig des Pilgerweges nach Santiago de Compostela wird gerade erschlossen, er führt mitten durch den Kirchenkreis Eisleben.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 44 des 52. Jahrgangs (im Jahr 2002).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 31.10.2002

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