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Versöhnung über Gräbern

Jugendliche erforschen Stalag VIII A / Fundamente von Kirchen- und Theaterbaracke entdeckt

Auf Einladung der deutschen Kriegsgräberfürsorge haben 25 Jugendliche aus ganz Europa an Ausgrabungen auf dem Gelände des ehemaligen Görlitzer Kriegsgefangenenlagers Stalag VIII A teilgenommen.

Bauhistoriker Axel Drieschner sucht mit Ewa Matuszewska und Betreuerin Samira Bauerfeind nach Spuren der Theater- und Kirchenbaracke.

Iwan (19) zeigt einen bunten Wandsplitter. Eben hat er ihn bei Ausgrabungen entdeckt. Bauhistoriker Axel Drieschner prüft. Gehört der Splitter zur früheren Theaterbaracke? Zu jener Baracke im Lager STALAG VIII A, in dem 1939-1945 fast 120 000 Kriegsgefangene vieler Nationen untergebracht waren? "Wir suchen nach Indizien. Noch wissen wir nicht, ob hier wirklich die Theaterbaracke stand", sagt der Bauhistoriker. Erstmals nach Jahrzehnten zielt ein Projekt auf die archäologische Sicherung dieser Baracke. "Versöhnung über den Gräbern - Arbeit für den Frieden" heißt es. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge organisiert es mit den Städten Görlitz und Zgorzelec (Polen), dem Verein Meetingpoint Music Messiaen und der Bundeswehr. 25 Jugendliche im Alter von 16 bis 26 Jahren nehmen teil. Aus Deutschland, Polen, Weißrussland, der Ukraine, aus Moldawien, Russland sowie Großbritannien kommen sie.

"Europa wächst zusammen. Das erleben wir im Kleinen", meint Anne Schieferdecker (24), Leiterin der Jugendbegegnung. Das Projekt soll Jugendliche für Geschichte sensibilisieren. Unkompliziert kommen sie sich näher. "Die Länder, die Kulturen, die Sprachen spielen irgendwann keine Rolle mehr", freut sich die Leiterin. "Im Grunde sind wir die erste Generation, die sich ohne Berührungsängste mit dieser Geschichte auseinandersetzen kann." Bei Pflegearbeiten säubern die Jugendlichen Wege und Steine des Friedhofs für polnische Kriegsgefangene. Andere graben mit Axel Drieschner und Architektin Barbara Schulz gezielt nach der Theaterbaracke.

In der Baracke wurde auch die Messe gefeiert


Doch nicht nur Theater wurde in der Baracke gespielt. Christian Buck, stellvertretender Landesvorsitzender der Kriegsgräberfürsorge, hat neue Erkenntnisse über die Baracke. "Das war die Theater- und Kirchenbaracke. Wahrscheinlich hat hier auch Pfarrer Franz Scholz die Messe gefeiert," berichtet er.

Wie Iwan gräbt auch Ewa Matuszewska (18) aus Schönlanke (Trzcianka) nach der Theaterbaracke. "Das Thema Frieden interessiert mich. Ich will vor allem Deutsch besser lernen", erzählt sie. Betreuerin Samira Bauerfeind (24) nickt. "Das Spannende an dem Projekt ist die Internationalität, die Verständigung der Kulturen, der Erhalt des historischen Erbes", sagt die Studentin für Deutsch als Fremdsprache und Erziehungswissenschaft von der Universität Jena. Sie hofft, dass Freundschaften entstehen. Sie hofft, dass andere Jugendliche aufwachen und über Geschichte tiefer nachdenken. "Ich finde es wichtig, Geschichte aufzuarbeiten. Sie darf nicht vergessen werden", meint Jasmin Märker (17) aus Leipzig. Eben gräbt sie mit der Britin Fiona Regan (20) aus Stokeon- Trent. Fiona studiert Deutsch an der Uni Liverpool. Geschichte interessiert sie stark. "Ich will auch mein Deutsch verbessern", sagt sie zu ihrer Motivation.

Unvorstellbar findet sie das Ausmaß des früheren Stammlagers Stalag VIII A. Ursprünglich, im September 1939, lebten hier über 10 000 polnische Kriegsgefangene. Später auch Franzosen, Jugoslawen, Belgier, Amerikaner, Russen, Italiener, Engländer. In Industriebetrieben und Bauernhöfen der Gegend mussten sie arbeiten. Die höchste Zahl Kriegsgefangener im Lager gab es am 1. September 1944 mit 47 238. Viele starben an Hunger, Ungeziefer, Kälte und Krankheiten. Oft mussten sich zwei Häftlinge ein Bett teilen. Russische Gefangene wurden besonders unwürdig behandelt. "Die Nazis entzogen ihnen oft jegliche Nahrung. Manchmal aßen die russischen Gefangenen sogar Gras. Es kam zu Fällen von Kannibalismus", sagt Dr. Albrecht Goetze, Vorsitzender des Vereins Meetingpoint Music Messiaen e. V.. "Wir sind derzeit dabei, Dokumente der über 10 000 Russen zu sichten, auszuwerten und zugänglich zu machen."

Komponist Olivier Messiaen war hier Häftling


Ab 2010, so die Vision des Vereins, soll ein Internationales Begegnungszentrum für junge Künstler und Musiker aus ganz Europa entstehen. Lernwochen für Schulklassen, Kompositionswettbewerbe, Instrumenten- Workshops sollen stattfinden. Mindestens 4,5 Millionen Euro betragen die Kosten. Aus örtlichen, regionalen und Landesmitteln, EU-Mitteln und Spenden soll die Finanzierung erfolgen. Entstehen sollen ein Konzerthaus, ein Gedenkhaus für Vorträge, Foren, Seminare, Museum und Gedenken sowie Gästehäuser.

Einer der Häftlinge war der bekannte französische Komponist Olivier Messiaen (1908-1992). In Paris wirkte er 55 Jahre als Organist in der Kirche Sainte-Trinité. Im Zweiten Weltkrieg gehörte er zu den Sanitätstruppen. Von Juni 1940 bis März 1941 war er Häftling im Stalag VIII A. "Es gibt kaum einen Ort in Europa, wo Schrecken und die Überwindung des Schreckens so nachhaltig und erkennbar verknüpft sind", meint Albrecht Goetze. Olivier Messiaen stand dafür. Im Stalag VIII A vollendete er sein "Quatuor pour la fin tu temps" (Quartett auf das Ende der Zeit). Am 15. Januar 1941 - bei minus fünf Grad Kälte, vor 400 Mithäftlingen - führte er es in der Theaterbaracke auf. Gemeinsam mit Etienne Pasquier (Cello), Henry Akoka (Klarinette) und Jean le Boulaire (Violine) erfolgte dies. Olivier Messiaen war tief gläubiger Katholik. Sein Gottvertrauen, die Ehrfurcht vor der Natur gaben ihm Kraft. Weltweit zeichnete er über 1500 Vogelstimmen auf. Davon flossen rund 300 in seine Werke ein. Er achtete die Vögel als übergeordnete Wesen. Im "Quartett auf das Ende der Zeit" schuf Messiaen eine eigene musikalische Zeiteinheit. Der fünfte Satz kündet von der Ehrfurcht vor dem Leben, der Ehrfurcht vor der Ewigkeit, der Ehrfurcht vor Jesus. Eben diese innere Kraft ließ ihn die Zeit im Straflager VIII A überstehen. (ak)

Das "Quatuor pour la fin tu temps" wird am 18. Oktober (19 Uhr) vom koreanischen Dirigenten Myung-Whun Chung in St. Bonifatius in Zgorzelec aufgeführt.

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