Maria, Mutter, Friedenshort
Die Geburtsstunde des Neuzeller Wallfahrtsliedes
"Wenn es in der Kirche gesungen wird, dann singt die ganze Kirche", sagt Elisabeth Schröter mit funkelnden Augen. Die fast 90-jährige Seniorin drückt so aus, was viele Gläubige des Bistums Görlitz beim Singen des "Neuzeller Wallfahrtsliedes" empfinden. "Und es wird nicht nur bei uns gesungen", weiß die Witwe zu berichten. Auch in anderen Bistümern hat das Lied der Heimatsuchenden Anklang und Heimat gefunden. Ihr verstorbener Mann war nicht nur Holzbildhauer. Georg Schröter war Dichter. Er schuf 1948 die acht Strophen des beliebten Wallfahrtsliedes.
Wie es dazu kam? Elisabeth Schröter kann sich nach so langer Zeit nicht mehr genau erinnern. Da kann ihre jüngste Tochter Raphaela Wedlich weiterhelfen. Sie hat noch viele Gespräche in der gastfreundlichen elterlichen Wohnung vor Augen:
"Wir brauchen ein Wallfahrtslied!" - Mit diesen Worten kam Heinrich Theissing zu Schröter. Der damalige Diözesan-Jugendseelsorger war ein talentierter Organisator. Er kannte seine Jugend, die jungen Familien, ihre Fähigkeiten. Theissing setzte "seine Leute" gezielt ein. So auch Georg Schröter, mit dem er gut befreundet war. Ein Jahr nach der ersten Wallfahrt zum ehemaligen Zisterzienserkloster Neuzelle schrieb Georg Schröter mit seinen Worten ein beeindruckendes Glaubensbekenntnis. Dank einer bis heute existierenden Tonbandaufzeichnung des Görlitzer Seelsorgeamtes kann man die Denkweise des Holzbildhauers und Liederdichters nacherleben:
"Die Bildhauerei ist immer etwas, was schon da ist, was herauskommen muss", erklärt Schröter. Er beschreibt es weiter mit den Worten des schlesischen Dichters Joseph von Eichendorff: "Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort." - Dieses schlafende Lied zu wecken, gelang Georg Schröter gleich zweifach: Mit dem Gespür eines Künstlers für den Raum arbeitet er aus der Barockkirche mit dem "geistigen Holzbeitel" die groben Strukturen. Mit dem Schnitzmesser eines tief religiösen Menschen schuf er die klaren Konturen. Es gelingen ihm Liedstrophen, die in diesem Gotteshaus schon immer zu Hause waren und doch neu geboren worden. Mit der Erfahrung von Krieg, Tod, Vertreibung, Hunger weist der Holzbildhauer auf Maria, "Unsere liebe Frau von Neuzelle", die den Bedrängten Trost, Zuflucht und Heimat gibt. Damit spricht er an, was viele junge Menschen damals empfanden. Schröter hat "nur" das schon Dagewesene in ihrem Denken herausgeschält, alles Unwesentliche weggelassen. Wahrhaftigkeit und tiefe Religiösität prägen das Neuzeller Wallfahrtslied. Von Anfang an fand es daher großen Anklang. An Aktualität hat es bis heute nichts verloren. Die einfache Melodie komponierte Adolf Lohmann, der über 150 Kirchenlieder schuf.
Georg Schröter, 1910 in Görlitz geboren, wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Er erlernt den Tischlerberuf. Schon früh drängt es ihn zu schnitzen und zu dichten. Wanderjahre in der Inflationszeit führen ihn bis nach Sizilien. Schröter heiratet 1939. Die Eheleute haben sechs Kinder. 1948 schnitzt er den Corpus des Wallfahrtskreuzes in Neuzelle. Im gleichen Jahr dichtet er das Neuzeller Wallfahrtslied. Georg Schröter legt 1955 die Meisterprüfung als Bildhauer ab. Für viele katholische Kirchen schuf er Kreuzwege und Ausstattungen. Georg Schröter, der zeitlebens von der katholischen Jugendbewegung des Quickborn geprägt war, starb 1986 auf Burg Rothenfels inmitten seiner Freunde.
Der bescheidene "Herrgotts- Schnitzer", wie viele Schröter nannten, war "ein Mann vom alten Schlag". In vielen Familien stehen Schröter’sche Weihnachtskrippen, hängen Kruzifixe. Georg Schröters größtes Schnitzwerk ist jedoch das "Neuzeller Wallfahrtslied".
Von Thomas Backhaus