Anstoß
Gottes Weisungen - ein Geländer zum Leben
Bei uns in der Gemeinde gibt es unter der Woche eine schöne Tradition: Nach der Morgenmesse frühstücken die Küster, der Pfarrer, der Kaplan und manchmal der eine oder andere Gast miteinander. Der nächste Bäcker ist zum Glück direkt auf der anderen Straßenseite. Langsam kenne ich die Verkäuferin und die anderen Stammkunden. Und oft treffe ich zur selben Zeit dieselben Menschen. Wenn zum Beispiel am Dienstag ein Rollator vor der Tür steht, weiß ich, dass ich im Laden eine alte Dame aus unserer Gemeinde treffen werde, die Kuchen und Brot für die kommenden Tage kauft. Die Frau beeindruckt mich, denn sie kann wirklich schlecht laufen, aber sie nimmt die Mühe auf sich, um in den Gottesdienst zu kommen und ein wenig Selbstständigkeit zu bewahren. Als ich ihr einmal dabei geholfen habe, den Einkauf im Korb zu verstauen, sagte sie mir: "Zum Glück habe ich meinen Rollator, an dem kann ich mich festhalten." Der Rollator ist für diese Frau wie ein Geländer für unterwegs. Er bietet ihr Sicherheit und Halt, um auch im Alter noch an der Welt teilnehmen zu können.
Das Bild muss noch in meinem Kopf gewesen sein, als ich mich auf den Religionsunterricht vorbereitet habe. Es sollte um die Zehn Gebote gehen und mir kam die Frau mit ihrem Rollator in den Sinn, um die Bedeutung der Gebote für Israel verständlich zu machen. Der Rollator ermöglicht dieser Frau Freiheit und Beweglichkeit. Mit seinen Geboten will Gott das Gleiche: Er gibt dem Volk Israel eine Hilfe, um sich in Frieden und Freiheit in der Welt zu bewegen. Aber die Propheten berichten an vielen Stellen des Alten Testaments, dass sich Israel nicht an die Gebote und Rechtsvorschriften des Herrn hält und deswegen strauchelt. Das Volk verzichtet auf der Suche nach Freiheit und Unabhängigkeit auf den Halt und die Sicherheit der Gebote. In dieser Hinsicht ergeht es dem modernen Menschen sicher nicht anders als dem Volk Israel. Und es ist nicht nur typisch für die Jugend, sich von nichts und niemandem Vorschriften machen zu lassen. Ist es möglich, dass wir am Ende darum eine Krise erleben, weil wir es wie das Volk Israel ohne ein Geländer versuchen und auf der Suche nach Halt und Orientierung ins Leere greifen?
Der alten Frau geht es gut mit ihrem Rollator. Mit ihm hat sie sich Freiheit und Selbständigkeit bis ins hohe Alter bewahrt. Ich denke an viele ältere Menschen aus unseren Gemeinden, die versucht haben, ihr Leben nach dem Glauben und seinen Geboten zu gestalten und damit glücklich geworden sind. Für sie sind die Gebote, was Martin Buber mit seiner Übersetzung deutlich gemacht hat: Weisungen zum Leben. Oder was die alte Dame über ihren Rollator sagt: Etwas, an dem man sich festhalten kann.
Die Heilige Schrift bietet auch dem modernen Menschen ein Geländer zum Leben an. Er findet es in den Weisungen für das Volk Israel (Deuteronomium 5, Verse 1 bis 22) genauso wie in den Worten Jesu (Matthäusevangelium 19, Verse 16 bis 30). Das Geländer ist da, nur Mut, es hilft zum Leben.
Kaplan Marko Dutzschke aus Cottbus