"Gott war mit unserem Volk"
Prälat Dieter Grande über die Ökumenische Versammlung, den Mauerfall und die Stasi-Aufarbeitung
Herr Prälat Grande, in diesem Jahr wird des Mauerfalls und der Friedlichen Revolution vor 20 Jahren gedacht. Was kommt Ihnen dabei spontan in den Sinn?
Meiner persönlichen Überzeugung nach war der Mauerfall das Eingreifen Gottes in die Situation unseres Volkes. Gott hat möglich gemacht, dass die Grenze geöffnet wurde und alles ohne Blutvergießen abging. Man kann gerade im Blick auf den Mauerfall von einer nicht endenen Kette von Zufällen sprechen. Mir fällt es leichter, an Gottes Eingreifen zu glauben. Es war so, wie es im Buch Exodus beim Auszug Israels aus Ägypten heißt: Gott war auf der Seite des Volkes und verwirrte und hemmte das Räderwerk der Mächtigen …
Die Ereignisse von 1989/90 waren durch die "Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" in Dresden 1988 mit vorbereitet worden. In letzter Sekunde beteiligte sich auch die Katholische Kirche daran - eine glückliche Entscheidung?
Die Katholische Kirche in der DDR war im Gegensatz zur Kirche in der Bundesrepublik nicht Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (AgCK), sondern nur Beobachter. In der AgCK waren Kirchen und kirchliche Gemeinschaften vertreten, die ganz unterschiedliche Einstellungen zum Sozialismus hatten. Die Katholische Kirche aber lehnte den Marxismus- Leninismus ab. Von daher lag es nahe, auch an der Ökumenischen Versammlung (ÖV) nur im Beobachterstatus teilzunehmen. Die Berliner Bischofskonferenz (BBK) entsandte deshalb drei Beobachter zu den Vorbereitungssitzungen der ÖV. Darunter war auch ich als Leiter der Arbeitsgruppe Justitia et Pax. Schon nach der ersten Sitzung der Vorbereitungsgruppe war uns Beobachtern klar, dass eine wirksame Mitarbeit nur durch eine volle Teilnahme möglich sein würde. Dies haben wir in unserem Bericht an die BBK deutlich vertreten. Leider standen einer vollen Teilnahme Entscheidungen des Berliner Kardinals Joachim Meisner für die Teilnahme an der ÖV in Westberlin im Wege. In letzter Minute wurde ein Ausweg gefunden: Die Katholische Kirche beteiligte sich durch ihre Arbeitsgruppe Justitia et Pax an der ÖV. Eine der vorrangigen Optionen der ÖV war die für Gewaltfreiheit. Als dann 1989 die Demonstrationen begannen, gelangte aus den Kirchen der Ruf "Keine Gewalt" auf die Straßen und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass der Umbruch friedlich verlief.
Sie haben die Arbeit von Justitia et Pax in der DDR geleitet. War es möglich, Probleme der Gesellschaft ernsthaft in den Blick zu nehmen?
Wie der Name schon sagt, ging es bei dieser Arbeit um Gerechtigkeit und Frieden. Die Arbeitsmöglichkeiten der kleinen Gruppe waren sehr eingeschränkt. Im Dezember 1978 wurde ich als Einzelperson mit dieser Aufgabe für den Bereich der BBK beauftragt. Offensichtlich hatte Rom gedrängt, auf diesem Feld aktiv zu werden. Erst 1983 konnte eine offizielle Arbeitsgruppe Justitia et Pax gebildet werden, die aber nur aus Priestern bestehen durfte. Zu den jährlichen Weltgebetstagen für den Frieden wurden ab 1982 kleine Handreichungen für die Gemeinden erstellt. 1985 konnte eine gebundene Handreichung zum Thema "Grundrechte des Menschen" veröffentlicht werden. In ihr waren die gesetzlichen Grundlagen, die in der DDR zum Thema Menschenrechte bestanden, zusammengestellt, um sie zahlreichen Interessierten zugänglich zu machen. Aber es gab für Justitia et Pax in der DDR kaum eine Möglichkeit, wirklich gesellschaftlichen Einfluss zu nehmen.
Sie haben die Öffentlichkeitsarbeit der Katholischen Kirche aufgebaut. 1990 gehörten der Pressestelle außer ihnen fünf weitere Mitarbeiter an. Was wurde damals erreicht?
Im September 1988 wurde die Pressestelle der BBK errichtet und ich wurde zu deren Leiter und zum Pressesprecher der BBK ernannt. Damit bekam die Katholische Kirche in dieser Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche eine eigene Stimme. Die Ergebnisse der Vollversammlungen der BBK wurden durch Pressekonferenzen bekannt gemacht. In den einzelnen Jurisdiktionsbezirken, den heutigen Bistümern, wurden ebenfalls Pressestellen aufgebaut, welche den regionalen Medien Nachrichten aus dem Bereich der Kirche zur Verfügung stellen sollten. Für viele Journalisten besonders aus der Bundesrepublik war die Pressestelle der BBK Anlaufpunkt, um Informationen über das kirchliche Leben in der DDR zu erhalten. Nach der sogenannten "Wende" veranstaltete die Pressestelle Wochenenden für Journalisten, die Grundinformationen über die Katholische Kirche, ihre Strukturen und Traditionen erhalten wollten. Dies war besonders wichtig für Medienleute, die bislang keinerlei Berührung mit Religion und Kirche hatten. Zudem gab es journalistische Weiterbildungsangebote in den kirchlichen Raum hinein.
Sie waren auch am Zentralen Runden Tisch in Berlin tätig …
Der Zentrale Runde Tisch arbeitete vom 7. Dezember 1989 bis zum 12. März 1990. Auf Wunsch der neuen politischen Gruppierungen wurde er von drei Vertretern der Kirchen moderiert. Monsignore Dr. Karl- Heinz Ducke war der Moderator der Katholischen Kirche. Ebenfalls hatten die Kirchen die Medienarbeit zu leisten. Hier wurde ich zusammen mit dem Pressebeauftragten des Bundes der Evangelischen Kirchen, Pfarrer Rolf-Dieter Günther, tätig. Nach den ersten drei Sitzungen wurden diese im Fernsehen live übertragen, so dass Pressekonferenzen und Ähnliches nicht mehr erforderlich waren. Inzwischen hatte sich jedoch herausgestellt, dass jemand die Fülle der gefassten Beschlüsse und ihren genauen Wortlaut festhalten musste. Diese Sekretariatsarbeit haben Pfarrer Günther und ich dann übernommen.
Wie beurteilen Sie heute die Arbeit des Zentralen Runden Tisches? Woran erinnern Sie sich gern? Was lief nicht gut?
Der Runde Tisch forderte von der Regierung der DDR "die Offenlegung der ökologischen, wirtschaftlichen und finanziellen Situation in unserem Land". Er forderte von der Volkskammer und der Regierung "rechtzeitig vor wichtigen Rechts-, Wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen informiert und einbezogen zu werden" und verstand "sich als Bestandteil der öffentlichen Kontrolle in unserem Land". Der Zentrale Runde Tisch eröffnete einen ersten Dialog zwischen den etwa gleichstark vertretenen neuen politischen Gruppierungen der Bürgerrechtsbewegung und den in der alten Volkskammer etablierten Parteien und Organisationen und konnte dadurch für eine gewisse Beruhigung der Situation sorgen. Unter den vielen Ergebnissen erinnere ich mich besonders an die erste Pressekonferenz in der Nacht vom 7./8. Dezember 1989 gegen 1:30 Uhr, bei der ich den Beschluss zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), das sich inzwischen aus taktischen Gründen in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) umbenannt hatte, bekannt geben konnte.
Sie haben später mit dem Historiker Bernd Schäfer die Unterwanderung der Katholischen Kirche durch das MfS untersucht. Hat die Kirche ihre Stasi-Belastungen umfassend aufgearbeitet?
Die Aufgabe der Arbeitsgruppe lautete genau: "Aufarbeitung der Tätigkeit staatlicher und politischer Organisationen, besonders des MfS, gegenüber der katholischen Kirche". Es ging also um mehr als nur um die Enttarnung ehemaliger Stasispitzel. Die Zuständigkeit für die Freigabe der erforderlichen Informationen lag im Ermessen des einzelnen Bischofs. Von daher ist der Grad der Aufarbeitungen in den Bistümern unterschiedlich. Soweit der Arbeitsgruppe Informationen zur Verfügung standen oder durch wissenschaftliche Forschungsarbeit bei der Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes gefunden werden konnten, wurden alle Ergebnisse im Jahr 1998 in dem Buch "Kirche im Visier - SED, Staatssicherheit und Katholische Kirche in der DDR" veröffentlicht. Im Bistum Dresden-Meißen wurde neben der wissenschaftlichen Untersuchung auch eine Regelüberprüfung aller Priester und hauptamtlichen Mitarbeiter durchgeführt. Hier liegen die genauesten Ergebnisse vor. Da wir keine Unterscheidung zwischen Bagatellfällen und schweren Verstrickungen gemacht haben, dürfte im Vergleich mit anderen Kirchen oder Organisationen ein fast vollständiges Ergebnis vorliegen.
Dennoch sind wichtige Fragen offen geblieben …
Zum einen war bis 1997 die Erschließung sogenannter "Sachakten" in der Behörde des Bundesbeauftragten noch nicht allzu weit fortgeschritten, da der Schwerpunkt deren Arbeit auf "personenbezogenen Akten" lag. Hier wäre bei dem heutigen Erschließungsstand sicher eine weitere Forschungsarbeit sinnvoll, etwa im Blick auf Stasi-Aktivitäten im Bereich von Seelsorge, Caritas oder Jugendarbeit. Unbefriedigend war für uns auch die Einsicht von "Opferakten", die ja nur mit Einverständnis des Betroffenen erfolgen konnte. Viele Betroffene hatten ihre Akten noch nicht eingesehen, oder wir haben nichts davon erfahren. Auch hier wäre eine neue Arbeit sinnvoll, um die ganze Fülle der Belastungen für Katholiken durch das MfS dokumentieren zu können.
Interview: Eckhard Pohl