Rituale können Rastplätze sein
Buchautorin Marita Raude-Gockel über die Bedeutung von festen Gewohnheiten in der Familie
Chemnitz. Die Evangelische Erwachsenenbildung und die Chemnitzer Pfarrei St. Joseph hatten kürzlich Marita Raude- Gockel, Autorin eines Buches über Rituale, zu Gast. Sie gab Denkanstöße zur Bedeutung von Ritualen und erzählte von eigenen Erfahrungen in Familie und Gemeinde.
Es könne für Menschen entlastend sein, sich auf Rituale stützen zu können und nicht ständig alles in ihrem Leben neu erfinden zu müssen. Für ein Ehepaar beispielsweise könne ein Abendritual wie das Zusammensitzen bei einer Kerze Halt und Hilfe auch in Krisenzeiten sein. Kinder würden durch verlässlich wiederkehrende Gesten und Handlungen Geborgenheit und Vertrauen erfahren. Dies sei wie ein Polster, von dem sie in späteren Lebensphasen zehren könnten.
Falsch wäre es jedoch, aus der Erkenntnis der positiven Auswirkungen den Schluss zu ziehen: Je mehr Rituale desto besser, meinte Marita Raude-Gockel. Familienmitglieder sollten gemeinsam entscheiden, was ihnen wichtig ist. Solche Entscheidungen seien zunehmend nötig, da die früher selbstverständliche Verknüpfung von Zeiten im Jahr mit zugehörigen Ritualen sich mehr oder weniger aufgelöst habe.
Zwar sei eine gewisse Disziplin wichtig, um ein Ritual durchzuhalten. Dies heiße aber nicht, dass man es zehn Jahre lang zwanghaft aufrechterhalten müsse. Kinder warten auf ihre gewohnten Rituale und freuen sich darauf. Es gibt aber auch Gewohnheiten, aus denen sie irgendwann herauswachsen, erläutert die Referentin. Wenn Kinder selbst äußerten, dass sie Veränderung möchten, sollte man dieses Signal aufgreifen. Gerade in der Pubertät wachse das Bedürfnis, sich von Ritualen zu lösen. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Geborgenheit blieben jedoch. Raude-Gockel empfahl, in dieser Zeit gemeinsam mit den Jugendlichen nach Alternativen zu suchen. Als Beispiel nannte sie, dass an Stelle des gemeinsamen Sonntagmorgenfrühstücks ein Brunch nach dem Gottesdienst treten könnte.
Die Eltern und Erzieher, die in den Saal der Josephs-Gemeinde gekommen waren, trugen zusammen, welche Rituale in ihren Familien und Gemeinden das Jahr über gepflegt werden. Im katholischen Montessori-Kindergarten beispielsweise gibt es den Brauch, in der Osterzeit analog zur Weihnachtskrippe einen kleinen Ostergarten aufzubauen. Mit Figuren spielen Kinder und Erzieherinnen dort biblische Geschichten nach. Evangelische Christen berichteten, dass in einigen ihrer Gemeinden um das Johannisfest eine Friedhofsandacht gehalten wird, bei der - stärker als bei den Friedhofsbesuchen im November - die Auferstehungshoffnung ins Blickfeld gerückt wird. Ein Vater erzählte, dass seine Frau an den Geburtstagen ihrer Kinder einen Blumenstrauß geschenkt bekommt als Dank dafür, dass sie dem Kind das Leben geschenkt hat. Marita Raude-Gockel erzählte unter anderem vom Jahreszeitentisch, der in ihrer Familie jeweils saisongerecht umgestaltet wird. Man trifft sich an diesem Tisch zu kleinen Andachten, erläuterte sie. Die Tage um das Christkönigsfest sind an diesem Jahreszeitentisch mit einem Moment des Innehaltens verbunden: Der Herbstschmuck ist bereits weggeräumt, die Adventsdekoration wird aber noch nicht aufgebaut. Lediglich ein grüner Zweig und ein Dornenzweig finden in dieser Zeit ihren Platz auf dem Tisch und regen zum Nachdenken an über alles, was im zu Ende gehenden Jahr lebendig war wie der grüne Zweig und über das, was schwierig und verletzend war.
Von Dorothee Wanzek
Claudia Pfung, Marita Raude- Gockel:
Das große Buch der Rituale; Kösel-Verlag 2007;
ISBN 978-3-466-36772-6; Preis 19,95 Euro