Jetzt 4 Wochen kostenfrei Tag des Herrn lesen!

Ein "Denk-Ort" für Halberstadt

Eine Raumskulptur erinnert an die frühere Große Synagoge von Halberstadt

Halberstadt. 70 Jahre nach ihrem Abriss ist in Halberstadt zum Gedenken an die frühere Große Synagoge die Raumskulptur "Denk-Ort" übergeben worden.

Lillian Rosenberg weist auf das letzte Bild ihrer Familie auf dem Halberstädter Bahnhof. Sie wurde mit einem Kindertransport nach England geschickt und sah ihre Eltern nie wieder.

Judith Biran geht durch Halberstadt. Hier kam sie 1920 zur Welt. Sie liebt diese Stadt, aus der sie vor 70 Jahren fliehen musste. Die kleine Frau, die am 4. November für eine Zeit nach Halberstadt zurückkehrte, steht vor den Resten der Barocksynagoge zwischen Judenund Bakenstraße, deren strenge Festlichkeit sie schon als kleines Mädchen beeindruckte. Auch wegen Justin Berliner, der als Kantor das Musikleben der Stadt einst prägte. Neben den bekannten von Kurt Weill organisierten Konzerten in der Halberstädter Berend- Lehmann-Loge feierte man auch Privatparties mit den bekannten Komponisten.

Judith Biran hat in ihrer Geburtsstadt wieder Freunde gefunden, von Ute und Michael spricht sie und trifft sich mit Jutta Dick, der Direktorin der Moses-Mendelssohn- Akademie. Sie besucht die Miriam-Lundner-Schule, benannt nach der jüngsten Tochter des letzten Rektors der jüdischen Schule in Halberstadt. Sie wurde am 12. April 1942, an ihrem vierten Geburtstag, mit Eltern und ihren Geschwistern deportiert und später ermordet. 1933 gab es 706 jüdische Bürger in Halberstadt, die Zahl ging bis 1939 auf 235 zurück, die letzten wurden am 12. April und 23. November 1942 deportiert.

Die Halberstädter Synagoge ist in ihren Grundrissen ab 20. November 2008 nach der Konzeption des Künstlers Olaf Wegewitz wieder erlebbar. Die Raumskulptur nennt Wegewitz "Denk-Ort - Und die Lebenden nehmen sich das zu Herzen". Durch das Areal führen nun Pfade, die ein ehrfurchtsvolles Schreiten ermöglichen. Die neuen Fliesen entstanden nach dem Vorbild der historischen Barockfliesen. Sie wurden "betitelt" und mit Pflanzenmotiven versehen. Viele Bürger und Gäste der Stadt haben symbolisch eine Platte für den "Denk-Ort" auf dem Gelände der Synagogenruine erworben und nahmen an der Einweihung teil - am 20. November, auf den Tag genau 70 Jahre nachdem der von der Stadtverwaltung verfügte Abriss der Synagoge begann.

Ministerpräsident Wolfgang Böhmer lobte Halberstadt und die hier beheimatete Moses-Mendelssohn- Akademie für ihr Engagement bei der Aufarbeitung der jüdischen Vergangenheit. Halberstadt stelle sich dieser Verantwortung und sei in den vergangenen Jahren zu einem anerkannten Lernort für jüdisches Leben und jüdische Kultur geworden, sagte er.

Charlotte Knobloch, Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, erinnerte in strömenden Regen an die jüdischen Mitbürger, die ebenso in Regen und Sturm gestanden haben und dann deportiert wurden. "Sie konnten nicht in ihr warmes, trockenes Zuhause zurück." Sie hätte an dieser Stelle lieber eine Synagoge eingeweiht, aber vielleicht wird sich in künftigen Generationen hier wieder jüdisches Leben mit einer Gemeinde entwickeln. Tief bewegt erlebten die Teilnehmer der Denk-Ort-Übergabe, wie der 80-jährige Shimon Kowalski, der bis 1935 in Halberstadt lebte, das jüdische Totengebet Kaddisch sprach.

Weil Wegewitz biblische Pflanzen aus dem Alten Testament ansiedelte, entstand die Idee, auf die neuen Fliesen die hebräischen Namen von Akazie über Pappel, Rose, Schierling bis Wassermelone und Zwiebel zu verzeichnen. Die von Hand geformten Platten entstanden im Ziegelwerk Graupzig (Sachsen). Nur zu erahnen das Vorlesepult der Synagoge, und der Thoraschrein. 72 kreisrunde Vertiefungen erinnern an die Thorarollen, die die jüdische Gemeinde Halberstadt einst besaß. Die Thorarollen flogen über die Altstadtstraßen als die Halberstädter Barocksynagoge in der Bakenstraße 56 am 9. November 1938 beschädigt wurde. Aus Angst um die historische Fachwerksubstanz in der Nachbarschaft steckte die antisemitische Meute die Synagoge jedoch nicht in Brand. Die jüdische Gemeinde musste sie auf Weisung der Halberstädter Baupolizei auf eigene Kosten abtragen.

Hier und da erinnert heute auf dem Areal ein Mauerstück oder eine Bodenfliesen an die vergangene Größe. Judith Biran schwärmt von der wunderschönen Ausstattung der Synagoge, den herrlichen Leuchtern. Jutta Dick hält Fotos und Zeichnungen in den Händen, die diese Pracht belegen. Traurig sagt sie: "Nicht ein einziges Stück fand den Weg in unser Berend- Lehmann-Museum zurück."

Der Garten mit biblischen Pflanzen gleicht der Idee der Moses- Mendelssohn-Akademie: Das Judentum ist für viele Menschen so exotisch wie viele Bibelpflanzen. Wenn man genauer hinschaut, merkt man, wie viel man doch davon aus dem Alltag kennt. Die Pflanzen nehmen das Gelände nun in Besitz: ein selbst regulierender Mechanismus in der Natur, der einem Öko-Garten gleiche. Neue Pflanzen kommen hinzu, andere verschwinden irgendwann.

Jutta Dick, die Direktorin der Moses-Mendelssohn-Akademie, freute sich, dass zwölf ehemalige Halberstädter jüdischen Glaubens und ihre Nachfahren ihrer Einladungen zu dieser Veranstaltung gefolgt sind, die in ganz spezieller Form an die Zerstörung der berühmten Barocksynagoge erinnerte. So kamen Lillian Rosenberg und Micha Maor, Mitglieder der Familie Hirsch, die einst ein Metallimperium im Harz aufgebaut hat, und viele weitere ehemalige Halberstädter wie die 88-jährige Judith Biran und die 90-jährige Lea Kloppstock, eine Nachfahrin des Bankhauses Baer, in die Stadt ihrer Vorfahren. Sie alle lauschten am Abend des 20. November einem hochkarätigen Konzert mit Synagogalmusik. Andor Izsák, Professor am Europäischen Zentrum für Jüdische Musik der Hochschule für Musik und Theater Hannover, konzipierte dazu ein Programm, das sich an die Musiktradition der Halberstädter Synagoge anlehnt, die Judith Biran so liebt.

Von Uwe Kraus

Aktuelle Empfehlung

Der TAG DES HERRN als E-Paper - Jetzt entdecken!

Aktuelle Buchtipps