"Hallo, mein Wunder"
Ein Lebensretter auf dem Weg zurück ins Leben
Leipzig. Wenn man Gerd Queißer begegnet, sprüht einem die pure Lebensfreude entgegen. Seine aufmerksamen Augen suchen immer die des Gegenübers. Wohlwollend, fast kindlich ist sein Blick. Dabei hat der 53-Jährige, der seit über dreißig Jahren in Leipzig lebt, ein tragisches Schicksal hinter sich.
26 Jahre lang war der Rettungsassistent in seinem Beruf tätig. "Das war meine Welt!", schwärmt er. Während eines Einsatzes vor sieben Jahren kam es dann zu einem Unfall, der ihn fast sein Leben kostete. Auf der Strecke zwischen Leipzig und Delitzsch prallte ein LKW mit 120 Stundenkilometern frontal auf seinen Einsatzwagen. Der Lebensretter musste nun selbst gerettet werden.
Über eine Stunde dauerte es, bis man ihn aus dem Wrack des Rettungswagens herausgeschnitten hatte. Dass er überlebt hat, ist ihm selber ein Rätsel. "Bis hierhin war ich Matsch", er zeigt auf seinen Brustkorb. Sein starkes Herz habe ihn gerettet, berichten ihm seine Ärzte. In einer 16-stündigen Operation wurden die lebensnotwendigen Organe wiederhergestellt, bis heute musste Gerd Queißer 42 Operationen über sich ergehen lassen. "Ich musste nach dem Unfall praktisch von Null anfangen. Wie ein Neugeborenes musste ich sprechen, essen und laufen lernen." Ingesamt vier Jahre lag er in Spezialkliniken. In dieser Zeit standen ihm besonders die Krankenhausseelsorger vom Klinikum St. Georg in Leipzig und sein Gemeindepfarrer ermutigend zur Seite.
Der gebürtige Delitzscher lebt allein, vor 15 Jahren ließen sich er und seine Frau scheiden. Mit seinen beiden Söhnen ist das Verhältnis bis heute intakt. "Meine Kinder waren es auch, die dafür gekämpft haben, dass ich wieder in mein Haus zurückkehren kann. Sie haben mehr daran geglaubt, dass ich wieder auf die Beine komme, als so mancher Arzt, der mich schon als Pfl egefall abgeschrieben hatte." Regelmäßig muss er noch zu Untersuchungen. Wenn er auf die Station kommt, ruft ihm dann sein behandelnder Arzt schon von Weitem zu: "Hallo, mein Wunder!" Jeden Morgen schickt Gerd Queißer ein Dankgebet "nach oben", denn er ist sich dieses Wunders sehr wohl bewusst. "Seitdem ich mein Leben vor sieben Jahren neu begonnen habe, lebe ich nicht einfach so in den Tag hinein. Ich besinne mich täglich nach dem Aufstehen und nehme mir etwas für den Tag vor."
Wenn er gefragt wird, was ihm heute das Wichtigste im Leben sei, dann gibt er eine schnelle Antwort: der Glaube und die Menschen. Das, wonach er sich am meisten sehne, sei eigentlich die Verbindung zwischen beidem, die Gemeinschaft der Menschen im Glauben - gelebte Kirche. Echte Gemeinschaft hat er lange Zeit vermisst. In der ersten Zeit nach dem Unfall waren viele Freunde für ihn da, darunter auch Mitglieder seiner Kirchengemeinde in Leipzig. Doch mit den Jahren nahmen die Besuche ab, und seit er wieder zu Hause lebt, hat er zu einigen seiner Bekannten kaum noch Kontakt. "Vielleicht haben sie ja Berührungsängste, jedenfalls fühle ich mich manchmal richtig ausgegrenzt und behindert. Andere Leute sind wiederum sehr herzlich zu mir, nur da frage ich mich, wo waren die in den letzten Jahren, wenn ich mal ein ermutigendes Wort gebraucht habe?" Aus seiner Frage ist kein Vorwurf herauszuhören, sondern die Suche nach einer ehrlichen Antwort. Gerd Queißer lässt sich aber nicht entmutigen und will nun einen Neuanfang wagen, auch in seiner Kirchengemeinde. Seine Sehnsucht nach Zugehörigkeit sei einfach zu groß. Zwar gäbe es in seiner Gemeinde keine Gruppe für Alleinstehende in seinem Alter, aber seinen Platz werde er schon fi nden - beim Erzählen lächelt wieder das unvoreingenommene und schelmische Kind aus ihm. Auf die Frage, warum er den Menschen, die ihn enttäuscht und im Stich gelassen haben, wieder neu begegnen wolle, antwortet er, ohne zu zögern: "Man muss auch verzeihen können." Die Zeit heile wahrscheinlich auch diese Wunden, hofft er, denn körperlich gehe es nur noch bergauf.
Mittlerweile kann er nicht nur wieder laufen, sogar seinen Führerschein hat er wieder gemacht. Gerd Queißer scheint einen unbändigen Lebenswillen zu haben. "Die beste Therapie sind Sonne und Bewegung, davon bin ich überzeugt. Das hat mich auch davor bewahrt, psychisch abzurutschen." Psychopharmaka nehme er keine mehr, darauf ist er besonders stolz. In seinem Beruf als Rettungsassistent wird er wohl nicht mehr arbeiten können, muss er sich wehmütig eingestehen. Aber er ist für die Menschen in seiner Familie und in seinem Umfeld da, wenn sie Hilfe brauchen. "Das ist es, wofür ich lebe", bezeugt der einstige Lebensretter, der sein eigenes Leben zurückgewonnen hat.
Von Elisa Eichberg