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Im Wahn der ewigen Jugend

Psychotherapeut Piskorz über den Umgang der Gesellschaft mit der Endlichkeit des Lebens

Halle. Der Umgang mit Endlichkeit und Tod in der modernen Gesellschaft aus der Perspektive der Psychotherapie stand im Mittelpunkt des dritten Abends der Ringvorlesung zum Thema "Tod, Ritual, Leben" in Halle.

Die massive Verdrängung der Wirklichkeit des Todes aus dem Bewusstsein des Einzelnen und der Gesellschaft hat der Hallenser Psychotherapeut Johannes Piskorz beklagt. Die Lebensgestaltung der älteren Generation unterscheide sich in vielerlei Hinsicht nicht von der der Jüngeren. Überhaupt sei der Tod in der Gesellschaft kaum präsent. Es liege der Verdacht nahe, dass die Einzelnen aus persönlicher Angst vor ihrem eigenen Ende den Tod verdrängen oder / und sich dem gesellschaftlichen Mainstream beugen, wonach niemand deutlich machen darf, dass alle im Angesicht der Endlichkeit leben, sagte Piskorz beim dritten Abend im Rahmen der Ringvorlesung "Tod, Ritual, Leben. Verdrängung des Todes oder ars moriendi" in Halle.

Die Praxis, die Endlichkeit des Lebens weithin zu verdrängen, werde durch die Naturwissenschaft forciert, die die Möglichkeit einer weiten Ausdehnung des menschlichen Lebens in greifbarer Nähe sieht. So habe etwa der Genetiker Aubrey de Grey von der Universität Cambridge 2004 angekündigt, die Menschen würden mit Hilfe biotechnologischer Methoden in absehbarer Zeit so lange leben können, wie sie wollten.

Verräterisch für die Verdrängung des Sterbenmüssens sei, dass sich im gesellschaftlichen Sprachgebrauch statt der Begriffe "Rentner" und "Pensionär" das Wort "Senior" eingebürgert habe und nicht selten heute statt von Altenpfl egeheim von Seniorenheim die Rede sei. Und auch die Rede von der Freizeitgeneration unterstütze das Ziel, "die Realität zu vertuschen, dass das Alter die Endlichkeit und vor allem den Tod vor Augen führt", so Piskorz.

Der Tod - auf vielerlei Weise aus dem Leben verdrängt


Die Psychotherapeut macht an vielen Indizien eine Verschmelzung der verschiedenen Lebensalter im Sinne des Wunsches nach ewiger Jugend aus. So würden Kinder nicht selten wie Erwachsene angezogen. Immer mehr Eltern wollten eher die älteren Geschwister und Freunde ihrer Kinder sein und ließen sich von ihren Kindern mit Vornamen statt mit Mutter oder Vater anreden. In der Gesellschaft gebe es die Herabsetzung des Führerschein- oder des Wahlalters. Im Gegensatz dazu seien die Kinder immer länger wirtschaftlich von ihren Eltern abhängig, "was bei den Kindern zu erheblichen Schwierigkeiten führe, verbindliche Aufgaben des Erwachsenenalters zu übernehmen". Zudem gebe es Tendenzen, die juristische Verantwortlichkeit junger Leute für bestimmte Handlungen auf das 21. oder sogar 24. Lebensjahr hinauszuschieben. In der anderen Perspektive wiederum würden Mittvierziger an vielen modernen Arbeitsplätzen als zu alt angesehen.

Die jungen Alten imitierten die Lebensformen der jungen Generation etwa in der Kleidung, der Verwendung der Jugendsprache, im Ablehnen von Verbindlichkeiten, hoher Mobilität und reger Anteilnahme an der lustbetonten Spaßgesellschaft. Damit werde versucht, die Mühsal der Ebene zu vermeiden, möglicherweise aber auch die eigene Todesangst zu verdrängen, so Johannes Piskorz. Zudem deute das fast völlige Verschwinden von Trauerkleidung bei den Menschen, die einen nahen Angehörigen verloren haben, in diese Richtung.

Auch im Ringen um eine gesetzliche Regelung der Patientenverfügung stecke möglicherweise die Tendenz, den Tod in den Griff bekommen zu wollen, ihn handhabbar, beherrschbar zu machen. War früher das Heil, die Gesundheit des Patienten höchstes Kriterium für den Arzt, ist heute der Wille des Betroffenen zu berücksichtigen.

Zu Beginn seines Vortrages hatte Piskorz daran erinnert, dass die Menschen seit Jahrtausenden in Religion, Philosophie und Kunst mit dem Tod bewusst umzugehen versuchen. Die früheste bekannte Überlieferung von Todeserfahrung fi ndet sich im Gilgamesch- Epos (aufgeschrieben zirka 1800 v. Chr.): Angesichts des Todes seines Freundes Enkidu verlangt Gilgamesch von den Schmieden, von seinem Freund ein Bildnis zu schaffen, was ihm über den Tod hinaus eine gewisse Ewigkeit gibt. Der gefesselte Prometheus des Aischylos’ (525-456 v.Chr.) spricht - nach den Gründen gefragt, warum Zeus ihn so demütigt - von der blinden Hoffnung, die er den Menschen angesichts ihres sicheren Todes als große Wohltat gegeben habe. Für Platon (428/27-348/47 v.Chr.) ist die Seele unsterblich.

Akzeptanz des Todes als Gewinn für das Leben


Seit der Renaissance, so Piskorz, sei der Tod immer mehr zur Privatsache geworden. Für Søren Kierkegaard (1813-55) gewinnt der Mensch in seinem Selbst, wenn der Tod in seinen Gedanken wohnt. In dem der Mensch sich mit Ernst seiner Endlichkeit stellt, richtet er sich letztlich auf Gott aus. Jean-Paul Sartre (1905-80) und Albert Camus (1913-60) hingegen betonten die absolute Absurdität des Todes.

In der sich dem Vortrag anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass möglicherweise das Tätigsein des Menschen und sein Nachdenken und Schaffen in Religion, Philosophie und Kunst Formen sind, mit dem Tod zu leben. In dem der Mensch dabei seine Endlichkeit bejahen kann, fi ndet er ein sinnerfülltes Leben.

Die Ringvorlesung im Melanchthonianum der Universität Halle erfreute sich erneut eines großen Zuspruchs. Mehr als 250 Interessierte waren gekommen. Der nächste Vortrag fi ndet am 9. Dezember, 19 Uhr, ebenfalls im Hörsaal XX am Universitätsplatz 9 in Halle statt. Dann spricht die Jenaer Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin Christel Köhle-Hezinger zum Thema "Tod und Sterben in Traditionen und Ritualen".

Von Eckhard Pohl

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