Lesehunger nach allem, was von der Linie abwich
Katholiken im "Leseland" DDR
Berlin. Die Kirchen hatten in der DDR freiheitliche Spielräume. Galt das auch für die Publikationen, die sie veröffentlichten? Eine Tagung in der Katholischen Akademie in Berlin ging der Frage nach.
"Zwei Lektoren mussten regelmäßig ins Kulturministerium fahren, um dort jede Manuskriptseite genehmigen zu lassen", erklärte Jürgen Israel in seinem Vortrag "Türklinken zum Leben". Der Germanist und Publizist eröffnete mit seinem Referat über das einzige katholische Verlagshaus im Osten Deutschlands - St. Benno in Leipzig - überraschende Perspektiven. Bei der Tagung "Katholiken im ‚Leseland‘ DDR" in der Katholischen Akademie Berlin geriet dabei das Zusammenspiel von kirchlicher Öffentlichkeit, Sehnsucht nach erfülltem Leben und restriktiver Kulturpolitik in der DDR konturenscharf in den Blick.
Nichts Schriftliches ausgehändigt
Die konfessionellen Verlage boten in diesem Spannungsfeld die Möglichkeit, Türen einen Spaltbreit zu öffnen und spirituelle Weite zu spüren. Allerdings wurde die Programmarbeit der Evangelischen Verlangsanstalt und des St. Benno-Verlags streng überwacht. "Die Lektoren", so Israel aus der Innenperspektive, "konnten bei den oft inquisitorisch geführten Gesprächen zwar Aufzeichnungen machen, bekamen aber nichts Schriftliches ausgehändigt" - obwohl Druckgenehmigung und Papierzuteilung von den geforderten Änderungen abhängig gemacht wurden.
Was "Benno", lizensiert für die "Herausgabe katholischen Schrifttums in deutscher und lateinischer Sprache", seit seiner Gründung 1951 für die Minderheitenkirche im Osten bedeutete, belegen Zahlen: Hier wurde für die damals rund 1,5 Millionen katholischer Christen der Tag des Herrn (bis 1989 14-tägig erscheinend, Auflage 100 000, acht Seiten) sowie das "St. Hedwigsblatt. Katholisches Kirchenblatt im Bistum Berlin" (wöchentlich erscheinend, Auflage 25 000, acht Seiten) herausgegeben. Und nicht zuletzt konnte den Lesern des Verlags - im Jahr erschienen rund 100 Titel, darunter etwa die von Elisabeth Antkowiak herausgegebene "Reihe Religiöser Erzählungen" - das Bewusstsein vermittelt werden, Glied einer grenzüberschreitenden Weltkirche zu sein.
Gerade durch wohlwollende Berichte der katholischen Seite über die evangelische Kirche, erklärte Ursula Wicklein in ihrem Referat zum "Leseverhalten der Katholiken in der DDR", gehörte die Ökumene zu den Selbstverständlichkeiten christlicher Existenz unter den Bedingungen religiöser Repression. Darum erschien es an der Basis beinahe selbstverständlich, sich am Prozess der "Ökumenischen Versammlung" zu beteiligen. "Tatsächlich", so die Redakteurin, die für die Dresdner "Union", eine Zeitung der Blockpartei CDU, arbeitete, "herrschte überall ein Lesehunger, der all das, was von der offiziellen Linie einmal abwich - etwa die Diskussion über individuelle Schuld und Gewissen - begierig aufgriff und die Leipziger Buchmesse mit Verlagen aus aller Welt zu einem Großereignis machte.
Es blieb Siegfried Hübner, von 1973 bis 1991 Herausgeber des angesehenen "Theologischen Jahrbuchs", vorbehalten, darauf hinzuweisen: Die Leidenschaft, dem herrschenden Materialismus etwas entgegenzusetzen (unter anderem mit den Theologen Congar, Rahner, Ratzinger, Lehmann), wurde nicht allein von parteioffizieller Seite beschränkt. Auch im innerkatholischen Bereich gab es darüber Konflikte.
Staatliche Zensur und kirchenamtliche Bedenken
In seinem Vortrag "Theologie konzentriert" beschrieb der Leipziger Oratorianer und Dogmatiker eine intellektuelle Gratwanderung zwischen staatlicher Zensur und kirchenamtlichen Bedenkenträgern. Das der DDR abgerungene "Jahrbuch"-Projekt stand am Rand des Scheiterns. Sein Ende konnte nur abgewandt werden, indem Hübners alleinige Verantwortlichkeit ab 1975 in einem kollektiven Herausgeberkreis Erfurter Theologie-Professoren aufging. Dies ermöglichte dann aber die kontinuierliche Weiterführung. Das "Jahrbuch" mit seiner relativ kleinen Auflage von 2000 bis 3000 Stück avancierte so - auch für Leser in Polen, der Tschechoslowakei und der Bunderepublik - zu einem Kompendium wissenschaftlicher Theologie auf Höhe der Zeit.
Zum "Unerhörten", das auf der Tagung große Resonanz fand, ist Ulrich Werbs Vortrag zum "Theologischen Bulletin" zu rechnen. Die Arbeit am "Theologischen Bulletin", die der spätere Erfurter Regens von 1975 bis 1982 im Auftrag der Berliner Bischofskonferenz leitete (sein Nachfolger war von 1982 bis 1989 Heinz-Josef Durstewitz), ging still im Untergrund vonstatten. Nur wenige der 1800 Empfänger des für den "innerkirchlichen Gebrauch" bestimmten Periodikums hatten eine Ahnung, dass sich dessen Herstellung unter konspirativen Bedingungen im Keller einer Berliner Kirche vollzog. "Nachgedruckt wurde von uns fast alles, was von Theologie bis Psychologie bedeutsam für die pastorale Arbeit in der DDR erschien." Dass die Stasi jemals davon Wind bekommen habe, sei ihm nicht bekannt, meinte Werbs. "Aber möglicherweise hat der Geheimdienst diese Gegenöffentlichkeit geduldet, um ‚Schärferes‘ zu verhindern."
Wie hier nur anzudeuten, kam bei der Berliner Tagung lange Vergessenes und kaum Erforschtes in den Blick. Gern würde man Weiteres erfahren über "Adorno bis Zink", eine Liste von Namen, die Tabu waren oder über die tragende Rolle des Leipziger Oratoriums beim widerständigen Publizieren.
Von Thomas Brose