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Orientierung in der Umbruchszeit

Wirtschaftskreis und "Halle Magdeburger": Beispiele für Aktivitäten katholischer Christen 1989/90

Magdeburg. Im Verlauf des Herbstes 1989 bekamen die Veränderungen in der DDR immer mehr Dynamik. Bald war es möglich, auch Wirtschaftsreformen anzustreben und ohne Zensur publizistisch tätig zu werden. Gerhard Nachtwei und Bernhard Czogalla engagierten sich in Magdeburg.

Gerhard Nachtwei mit einem Exemplar der ersten Ausgabe

"Als sich im Herbst 1989 die oppositionellen Gruppen formierten, gab es einen akuten Bedarf, Texte vervielfältigen zu können", erinnert sich der Dessauer Propst Gerhard Nachtwei, damals Pfarrer in Magdeburg-Neustadt und im Begriff, bald die Leitung des Seelsorgeamtes im Bischöflichen Amt Magdeburg zu übernehmen. Kopierer gab es fast nicht. Vervielfältigungen bedurften staatlicher Genehmigung. "Im Bischöflichen Amt aber hatten wir begrenzt die Möglichkeit, Materialien für den ,innerkirchlichen Dienstgebrauch‘, wie es hieß, zu drucken", so Nachtwei.

Norbert Bischoff, damals Referent im Seelsorgeamt und dann auch Mitglied der in der Umbruchszeit eingerichteten katholischen Koordinierungsgruppe (für die Aktivitäten in den Gemeinden) bot den oppositionellen Gruppen an zu helfen. Leo Nowak, bis Frühjahr 1990 Seelsorgeamtsleiter, stellte Bischoff für die Koordinierungsaufgaben frei. So wurden unter seiner Vermittlung im Bischöflichen Amt zum Beispiel Flugblätter, erste Programme der oppositionellen Gruppen und ein "Informationsdienst" gedruckt, um viele Bürger zu erreichen.

Flugblätter wurden im Bischöflichen Amt gedruckt

Bernhard Czogalla

Dies kam auch dem auf Initiative von Gerhard Nachtwei bereits im September 1989 entstandenen Wirtschaftskreis zugute. "Eng mit den politischen Forderungen nach Freiheit und Demokratie waren auch Fragen verbunden, wie es mit der Wirtschaft im Raum der noch bestehenden DDR weitergehen sollte", so Nachtwei. Einer der ersten Mitstreiter des Kreises war Bernhard Czogalla: "Ziel unserer Arbeit war es, die Situation zu analysieren und Perspektiven auf die Frage anzubieten: Wie muss die DDR-Wirtschaft reformiert werden, um sie marktwirtschaftlich mit sozialem und ökologischem Schwerpunkt auszurichten?"

Zahlreiche Papiere wurden verfasst und verbreitet. Großen Zulauf erhielten die öffentlichen Diskussionsforen des Wirtschaftskreises, seit Nachtwei zur Beratergruppe Dom in Magdeburg gehörte und im November bei den Friedensgebeten auf das Angebot verweisen konnte, erinnert sich Czogalla, der nach 1990 viele Jahre Finanzbeigeordneter in Magdeburg war. Die Forderungen des Wirtschaftskreises wurden dem Rat des Bezirkes Magdeburg vorgelegt und auch beim Runden Tisch eingebracht.

Im November 1989 konnte die Druckerei des Bischöflichen Amtes nicht mehr die vielen Vervielfältigungswünsche erfüllen, sagt Nachtwei. Es entstand die Frage nach einer eigenen Zeitung. Bei einem Besuch des Wirtschaftskreises in der Bonifatiusdruckerei in Paderborn im Dezember 1989 kamen die Probleme zur Sprache. "Mit unserem Anliegen stießen wir beim Paderborner Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt, Generalvikar Bruno Kresing und dem Geschäftsführer der Paderborner Bonifatius-GmbH, Peter Kell, auf offene Ohren."

In der Folge wurde mit dem Chef vom Dienst von der Paderborner Kirchenzeitung "Der Dom", Gerd Vieler, die Herausgabe vorbereitet. Die erste Ausgabe der Wochenzeitung erschien dann am 9. Februar 1990 in einer Auflage von 100 000 Exemplaren. Dem Anliegen der Zeitung entsprechend sollte diese zunächst "Magdeburger Orientierung zum Zeitgeschehen" heißen. Nach Einwänden von Engagierten um Claus Herold in Halle stand schließlich "Halle Magdeburger. Zeitung für Sachsen-Anhalt. Orientierung zum Zeitgeschehen. überparteilich" auf dem Titel.

Die Bonifatiusdruckerei übernahm Herstellung und Lieferung nach Magdeburg. Wolfgang Hucke und Mitstreiter sorgten für die Verteilung vor allem in den Gemeinden. Die Zeitung kostete eine Mark pro Exemplar.

Fast täglich bis in die späte Nacht am Recherchieren und Schreiben gab die nebenberuflich tätige Redaktion sechs Ausgaben heraus, sagt Czogalla: "Wir verstanden unseren Dienst als politische Diakonie. Wir wollten Gewaltlosigkeit, Frieden und Solidarität in der Gesellschaft stärken." Enge Kontakte zum Bürgerkomitee, zu Oppositions- und Umweltgruppen, in die Gemeinden, zum Runden Tisch oder zu den von der katholischen Koordinierungsgruppe installierten Arbeitskreisen Wirtschaft, Bildung/Erziehung und Menschenrechte sorgten für vielseitige Information in der Zeitung. So wurden zum Beispiel neue Parteien vorgestellt oder über Umweltfragen berichtet.

100 000 Zeitungen pro Woche verteilt

"Gleich am Anfang hatten wir Ärger, weil wir über die Stasi-Belastungen des Verantwortlichen für Kirchenfragen in Magdeburg berichteten", erinnert sich Nachtwei. "Und es gab handfeste Drohungen, falls wir Listen mit den Namen von Stasi-Mitarbeitern veröffentlichen würden." "Bei unserer redaktionellen Arbeit", so Czogalla, "haben wir versucht, politisch Neutralität zu wahren. Das ist uns, glaube ich, gelungen." Während der Arbeit gab es Überlegungen, eine Tageszeitung zu schaffen. Als dann aber in der DDR Druckerzeugnisse aus dem Westen vertrieben werden durften, ließ das zunächst hohe Interesse an der "Halle Magdeburger" spürbar nach. Die letzte Ausgabe erschien vor der ersten freien Volkskammerwahl. Nachtwei: "Wir haben uns damals damit getröstet: Die Zeitung ist aus einer konkreten Situation entstanden. Wir haben darauf reagiert. Unsere Aufgabe ist jetzt erfüllt."

Das Redaktionsteam: Wolfgang Gerlich, Klaus Fiedler, Heinrich Sonsalla, Gerhard Nachtwei, Bernhard Czogalla, Rudolf Förster, Norbert Bischoff, Dieter Müller. Birgit Rohde ist nicht dabei.




Chronologie

September 89: Der Magdeburger Pfarrer Gerhard Nachtwei sammelt Interessierte, die sich mit den drängenden wirtschaftlichen Fragen in der DDR befassen wollen. Zudem entstehen in katholischer Initiative ein Bildungs- und ein Menschenrechtskreis. Friedensgebete und Versammlungen im Magdeburger Dom. Bischof Johannes Braun veröffentlicht auf Drängen von Nachtwei, Rat Ulrich Berger und Pfarrer Josef Kuschel ohne Zustimmung der Berliner Bischofskonferenz einen Hirtenbrief zur Lage in der DDR. Dies ermutigt die Katholiken, sich bei den Friedensgebeten, in Oppositionsgrppen, an den Runden Tischen einzubringen. Braun erhält darauf rund 1000 Zuschriften.

Oktober 89: Gerhard Nachtwei fordert in der Ratsrunde des Bischöflichen Amtes Magdeburg eine Beteiligung der katholischen Kirche an den Versammlungen im evangelischen Dom ein.

November 89: Bei einem dieser Friedensgebete teilt er mit: Die katholische Kirche stellt ihre Räume oppositionellen Gruppen für ihre Treffen zur Verfügung. Wirtschaftsfachmann Miehe aus- Hannover kommt regelmäßig in den Wirtschaftskreis; Aufbau einer Wirtschaftsbibliothek; Forderung nach Offenlegung der wirtschaftlichen Lage; Forderungen an den Rat des Bezirkes Magdeburg und beim Runden Tisch vorgelegt

Dezember 89:
Beim Besuch des Wirtschaftskreises in der Bonifatiusdruckerei Paderborn wird geplant, angesicht des Bedarfs an Orientierung in Magdeburg eine Zeitung herauszugeben. Der Versuch des Wirtschaftskreises, eine Industrie- und Handelskammer im Bezirk Magdeburg zu gründen, scheitert durch konträre Aktivitäten anderer.

Dezember 89 bis Februar 90: Der Wirtschaftskreis veranstaltet Kurse für Existenzgründer. Themen der vom Kreis angebotenen Abende sind zum Beispiel gesellschaftliche Fragen wie Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip oder das bundesdeutsche Betriebsverfassungsgesetz. Im Januar kommen über 1000 Interessierte. Vorbereitung der Herausgabe der "Halle Magdeburger" Zeitung.

9. Februar 90:
Die Zeitung erscheint erstmals. Letzte Ausgabe am 16. März.

18. März 90: Freie Volkskammerwahlen

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