Ausreisewillige waren der Motor
Die Ausreiseantragsteller und Flüchtlinge haben das Ende der DDR wesentlich befördert
Die große Zahl der Ausreisewilligen in den 1980er Jahren der DDR hat den Prozess der Friedlichen Revolution von 1989/90 zu erheblichen Teilen hervor- und in seine entscheidende Phase gebracht. Dies wurde bei einer Tagung zum Thema "Vaterlandslose Gesellen oder Revolutionäre" im Magdeburger Roncalli-Haus herausgearbeitet.
Zwar hätten viele Aspekte zum Ende der DDR beigetragen. Wichtigster Motor aber seien die Ausreisewilligen und Flüchtlinge gewesen. "Alles in allem lässt sich sagen, dass sich die Ausreiseantragsteller und Flüchtlinge zumindest objektiv als die wesentlichen Triebkräfte der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung Deutschlands unter bundesdeutschem Vorzeichen erwiesen haben", sagte der Berliner Publizist Bernd Eisenfeld bei der Tagung in Magdeburg. Eisenfeld gehörte selbst der DDR-Opposition an, reiste 1975 aus und ist heute wissenschaftlicher Mitarbeiter der Birthler-Behörde für die Stasi- Unterlagen.
Die insgesamt weit mehr als 100 000 Ausreisewilligen - und nicht so sehr die relativ überschaubare Zahl der Oppositionellen - waren in den 1980er Jahren für die DDR-Machthaber zum großen Problem geworden, wie auch aus Unterlagen der Machthaber hervorgeht. Die DDR ließ nach Angaben von Jörg Roesler (ehemals Akademie der Wissenschaften, heute Wirtschaftshistoriker, Universität der Künste, Berlin) 1984 schlagartig 32 000 Bürger in den Westen ausreisen, die Jahre darauf seien es durchschnittlich 23 000 gewesen. Die Motive der Ausreisewilligen waren sehr unterschiedlich, betonte Roesler.
Zwischen Dezember 1988 und September 1989 wurden schließlich 86 150 Ausreiseanträge genehmigt. Man hoffte, so das Problem der mit der DDR Unzufriedenen aus der Welt schaffen zu können, jedoch ohne Erfolg. Bernd Eisenfeld: "Die Ausreisebewegung zwang die DDR-Machthaber dazu, die Leute reisen zu lassen." Durch die sehr vielen Ausreisewilligen kam in die gesellschaftliche Entwicklung "eine Dynamik, während die Oppositionellen seit den 70er Jahren relativ konstant arbeiteten".
Das Potenzial der Oppositionsbewegung war "vergleichsweise bescheiden", so Eisenfeld. Im Mai 1989 habe das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) rund 160 Zusammenschlüsse, darunter 150(!) kirchliche Basisgruppen (35 Friedenskreise, 39 Ökologiegruppen, 23 gemischte Friedens- und Ökologiegruppen, sieben Frauengruppen, drei Ärztearbeitskreise, zehn Menschenrechtsgruppen) und zehn Gruppen mit koordinierenden Funktionen erfasst. Das Gesamtpotential wurde unter Einbeziehung peripher angegliederter Kräfte auf 2500 Personen veranschlagt. Darunter wollte man 600 Personen in Führungsgremien und "ungefähr 60 … unbelehrbare Feinde des Sozialismus" erkannt haben.
Die Opposition wollte die DDR als eigenen Staat auf demokratischer Basis erhalten und stand den Ausreisewilligen kritisch gegenüber. Opposition und Ausreisewilligen war die Einschätzung gemeinsam: In der DDR wird man entmündigt. Notwendig sind freie Wahlen und das freie Wort. "Die Zielvorstellungen der Opposition waren in der DDR nie mehrheitsfähig." Als "Kritiker eines wachstumsorientierten Kapitalismus" seien die kleinen Oppositionsgruppen "nirgends gewollt" gewesen, so Thomas Klein vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V. (Mathematiker, wegen Protesten gegen Berufsverbote für Linke in Ost und West 1979/80 in der DDR inhaftiert). Bei der Mehrheit der Bevölkerung sei es "zu allererst um Reisefreiheit, Versorgungssicherheit, Meinungsfreiheit gegangen und nicht um eine gerechte Weltwirtschaftsordnung", um Friedens- und Umweltfragen. Den Oppositionellen sei es dennoch etwa bei der Tschernobyl- Katastrophe vom 26. April 1986 oder bei der Niederschlagung des Studentenprotestes in Peking am 4. Juni 1989 gelungen, ihre Ghettoisierung zu durchbrechen und als "politisch wahrnehmbare Alternative für ein freies Land mit freien Menschen" und gegen eine "Wir wollen raus"-Haltung in Erscheinung zu treten.
Als einschneidendes Datum auf dem Weg zur Friedlichen Revolution verwiesen die Referenten der Tagung auf die Ereignisse um die "Kampfdemonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg" am 17. Januar 1988 in Berlin. Ausreisewillige und Oppositionelle planten ihre Teilnahme an der staatlichen Propaganda- Demonstration mit Plakaten wie "Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden", wurden kurz zuvor jedoch von Stasi-Mitarbeitern unter Hausarrest gestellt oder verhaftet. Einige führende Oppositionelle wurde wenige Tage später in den Westen abgeschoben. Dies führte zu inneroppositionellen Auseinandersetzungen, was vom MfS beabsichtigt war. Taktik der Stasi war es, Opposition und Ausreisewillige miteinander zu vermengen, um einen Keil in sie zu treiben. Dieses Ziel ging auf, so Thomas Klein.
Die Staatsmacht setzte auf Abschiebung Oppositioneller einerseits und auf Abschreckung durch massive Inhaftierungen Ausreisewilliger andererseits. Doch aufgrund der Abschiebungen Anfang 1988 "vervielfältigten sich die Aktivitäten von Ausreiseantragstellern", weil sie erkannten: Wir können unsere Ausreise beschleunigen, so Eisenfeld. In der Folge der Ereignisse um die Rosa-Luxemburg- Demonstration "stiegen die an zentrale Stellen gerichteten Beschwerden auf einen Spitzenwert von rund 70 000, darunter 30 000 an Erich Honecker persönlich".
Ein weiterer Meilenstein waren die das DDR-System entlarvenden Aktivitäten von Oppositionellen, Ausreisewilligen und anderen Bürgern im Umfeld der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989. Thomas Klein: Motor der Ereignisse vom Herbst 1989 war "die Massenflucht, zuvor aber auch die Solidarisierung mit den Inhaftierten der Rosa-Lxemburg-Demonstration und die Aufdeckung der Wahlfälschungen durch die Opposition". Und auch die Betroffenheit und die Proteste gegen die blutige Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking beförderten die Friedliche Revolution.
Als dann am 19. August 1989 nahe Sopron für mehrere Stunden die ungarisch-österreichische Grenze geöffnet wurde, nutzten mehr als 600 DDR-Bürger dies zur Flucht. In der gleichen Zeit flohen zahlreiche Bürger in die Ständige Vertretung in Berlin (die geschlossen werden musste) sowie in die Botschaften der Bundesrepublik in Budapest, Warschau und vor allem in Prag.
Am 4. September fand im Anschluss an das Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche die erste Montagsdemonstration statt. Demonstrationen an anderen Orten folgten in den darauffolgenden Wochen. Am 10. September trat das Neue Forum mit einem Gründungsaufruf in die Öffentlichkeit, weitere oppositionelle Gruppen gründeten sich kurz darauf.
Die Ausreise der Bürger aus der Prager Botschaft Anfang Oktober 1989 mit Zügen durch die DDR brachte (vor allem in Dresden) noch mehr Menschen auf die Straßen, unter ihnen auch viele, die ebenfalls in den Westen wollten. "Ausreiseantragsteller und Flüchtlinge erwiesen sich schon allein deshalb als hilfreich, weil sie den SED-Staat immer näher an den Rand seines Unterganges brachten und so die Opposition herausforderten", so Eisenfeld.
"Die Opposition hat in den Revolutionstagen das Steuerrad in der Hand gehalten, wieweit sich das Schiff aber noch steuern ließ, ist fraglich", so Podiumsteilnehmer Lothar Tautz (in der DDR evangelischer Pfarrer in Weißenfels und mit Oppositionellen und Ausreisewilligen im Gespräch, heute im Kultusministerium Sachsen-Anhalts). Für Eisenfeld hingegen hatte die Opposition "das Steuerrad nicht in der Hand, sondern wurde von den Umständen getrieben".
"Wie es die Entwicklung nach dem 9. November 1989 und nachdrücklich bei den ersten freien Wahlen offenbarte, spiegelten die Ausreiseantragsteller und Flüchtlinge im Gegensatz zum Gros der Oppositionellen die wirkliche Seelenlage der meisten Ostdeutschen wider. Denn kaum konnte sich die ostdeutsche Bevölkerung weithin angstfrei und lauthals Luft verschaffen, da wandelte sich der Ruf ,Wir sind das Volk‘ unaufhaltsam in den Ruf ,Wir sind ein Volk‘ unter bundesdeutscher Flagge."
Lothar Tautz verwies darauf, dass es sehr verschiedene Kräfte gab, die sich als Motor für den Herbst 1989 erwiesen. Neben den Ausreisewilligen hätten etwa die Friedens-, die Umwelt- und die Menschenrechtsgruppen, aber auch die Situation in der maroden Volkswirtschaft "zur inhaltlichen Substanz des Revolutionsherbstes 1989 beigetragen". Auch Teilnehmer der Podiumsdiskussion erinnerten an die Vielzahl der Faktoren, so die Solidarnosc- Bewegung in Polen, der Rüstungswettlauf der Supermächte, die Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, die Glasnost-Bewegung Michail Gorbatschows.
Der Magdeburger Domprediger Giselher Quast erinnerte als Vertreter der Kirchen an die Friedens- und Ökologiebewegung der 1970/80er Jahre als Wurzel vieler Oppositionsgruppen. Damals habe es eine Gleichzeitigkeit von geistlichem und politischem Denken und Handeln gegeben. Die Friedensgebete hätten vielen mit den DDR-Verhältnissen Unzufriedenen ein Dach gegeben. Es habe für die Kirchen aber einen Spagat bedeutet, gerade Ausreisewilligen beizustehen und gleichzeitig auch die im Land Bleibenden im Blick zu haben.
Die Runden Tische im Verlauf der Friedlichen Revolution waren "Ergebnis der Bemühungen der Opposition und haben dafür gesorgt, dass die Umbrüche halbwegs erträglich waren", betonte Tautz. Und Eisenfeld ergänzte: "Die Opposition setzte den weiterbestehenden Machtinteressen der SED - vornehmlich an den Runden Tischen - insofern Grenzen, als sie die Aufdeckung der Karten und des begangenen Unrechts verlangte und dafür sorgte, dass erstmals in der deutschen Geschichte unmittelbar nach dem Untergang einer Diktatur die Akten des Unterdrückungsapparates offen zugänglich gemacht wurden."
Von Eckhard Pohl