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Anstoß

Geschichte vom innersten Pünktlein

Schwester Susanne Schneider

Martin Buber erzählt aus der chassidischen Tradition: Rabbi Jizchak Meir erging sich einmal an einem Spätsommerabend mit seinem Enkel im Hof des Lehrhauses. Er begann zu reden: Wenn einer Rabbi wird, müssen alle nötigen Dinge da sein: ein Lehrhaus und Zimmer und Tische und Stühle, und einer wird Verwalter und einer wird Diener und so fort. Und dann kommt der böse Widersacher und reißt das innerste Pünktlein heraus, aber alles andere bleibt wie zuvor, und das Rad dreht sich weiter, nur das innerste Pünktlein fehlt!" Der Rabbi hob die Stimme: "Aber Gott helfe uns: Man darf’s nicht geschehen lassen."

Diese Geschichte kam mir kürzlich in den Sinn, als ich mit einer Frau sprach, die deutliche Anzeichen eines Burn-out-Syndroms zeigte. Sie war ehrenamtlich engagiert und half vielen anderen Menschen. Ihre Ziele waren hoch gesteckt: Im Beruf wollte sie Leistung bringen und privat wollte sie ein gutes Leben führen.

Als ich sie nach einiger Zeit wieder traf, bemerkte ich die Veränderung, die mit ihr passiert war: Nach wie vor war sie aktiv und einfallsreich, aber sie hatte keine Geduld und keine Ausdauer mehr. Auch mit sich selbst war sie unbarmherzig geworden.

Bei manchen ehrenamtlichen Mitarbeitern in den Pfarreien gibt es diese Entwicklung: Man stellt etwas auf die Beine, alle freuen sich, alles ist gut, dann kommt der "böse Widersacher" und reißt das innerste Pünktlein heraus. Letztlich ist dieses innerste Pünktlein der Glaube, dass die Menschen doch nicht so schlecht sind und die Hoffnung auf Gott, der zum Schluss alles gut macht.

Bei manchen Menschen, gerade bei den Engagierten, besteht die Gefahr, dass dieses innerste Pünktlein - ohne dass sie es zunächst merken - verloren geht. Irgendwann ist dann der Punkt erreicht, wo sie keine Freude und Erfüllung in ihrem Engagement mehr finden.

Spätestens dann sollte man die Notbremse ziehen und sich in einer "kreativen Pause" Hilfe holen. Diese Hilfe kann unterschiedlich aussehen: mal etwas ganz anderes machen, andere Leute treffen, andere Gebete sprechen, andere Gewohnheiten ausprobieren. Manchmal ist es schon eine Hilfe, wenn man sich besser abgrenzt und öfter mal "Nein" sagt. Manche Menschen werden durch eine Krankheit oder einen Unfall zu einer solchen kreativen Pause gezwungen.

Doch auch ohne diesen Zwang tut es gut, sich gelegentlich zu fragen, ob das eigene, individuelle innerste Pünktlein noch da ist. Wenn ja, will es gepflegt, gefördert und unterstützt werden, dass der böse Widersacher keine Chance hat.

Sr. Susanne Schneider,
Missionarinnen Christi,
Kontaktstelle Orientierung Leipzig

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