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Bereit, die Opfer zu opfern?

Interview mit dem Beauftragten für sexuellen Missbrauch im Bistum Magdeburg

Wittenberg. Für einen offeneren Umgang mit dem Thema "Sexueller Missbrauch" in katholischen Gemeinden plädiert Dr. Nikolaus Särchen, der Beauftragte für Verdachtsfälle im Bistum Magdeburg, im Interview mit dem Tag des Herrn.

Dr. Nikolaus Särchen leitet die Abteilung für psychische Erkrankungen der Wittenberger Klinik Bosse. Er ist Beauftragter des Bistums Magdeburg für Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs.

Was können Gemeinden tun, um Kinder und Jugendliche besser vor sexuellem Missbrauch zu schützen?

Ich plädiere dafür, mit großer Offenheit und Klarheit über dieses Thema zu sprechen, ohne Einzelne oder Gruppen vorzuverurteilen und ohne irgendjemandem übertriebenes Misstrauen entgegenzubringen. Gemeinden sollten sich klar machen: Sexueller Missbrauch kann überall vorkommen, wo verschiedene Altersgruppen miteinander umgehen - also auch bei uns. Wichtig ist auch zu wissen, dass pädophil veranlagte Männer und Frauen überdurchschnittlich stark in Berufe streben, in denen man mit jungen Menschen zu tun hat - dazu gehören auch Seelsorgeberufe.

Wenn es uns wichtig ist, dass Kinder in unseren christlichen Gemeinden im Glauben groß werden, müssen wir auf jeden Fall dafür Sorge tragen, dass sie niemals sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Deshalb sollten Gemeinden Regeln einführen, die zu ihrem Schutz beitragen.

Welche Regeln?

Kinder und Jugendliche sollten beispielsweise allein nichts in Wohnungen Alleinstehender zu suchen haben. Bei Veranstaltungen und Fahrten mit Kindern braucht es immer mehrere Erwachsene - Frauen und Männer - als Aufsichtspersonen, um gegenseitige Kontrolle und Schutzfunktion zu gewährleisten. Hygiene-, Sanitärund Schlafräume werden grundsätzlich nicht gemeinsam von Erwachsenen und Kindern benutzt (beim Zelten manchmal schwierig, aber trotzdem wichtig).

Ich kenne übrigens eine Reihe von Priestern, die diese Regeln aus eigenen Stücken in ihrer Gemeinde eingeführt haben, nicht zuletzt, um sich selbst besser vor möglichen falschen Anschuldigen schützen zu können.

"Man darf heutzutage ja nicht mal mehr ein Kind berühren, ohne in Missbrauchs-Verdacht zu geraten", sagen Priester zuweilen. Was raten Sie den Seelsorgern?

Priester sollten sich an anderen Menschen orientieren und beobachten: Welche Körperkontakte sind in zwischenmenschlichen Beziehungen normal? Fremde Kinder auf den Schoß zu nehmen, ist beispielsweise hierzulande nicht üblich.

Was ist denn überhaupt Missbrauch?

Ich definiere Missbrauch als Verhalten gegenüber einer ungeeigneten Person oder zu einem ungeeigneten Zeitpunkt. Ein Beispiel: Während der Predigt eine Flasche Bier trinken. Im Bereich der Sexualität gelten als Missbrauch sexuelle Handlungen, Anliegen oder Kommentare gegenüber Menschen, die unter besonderem Schutz stehen: Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene.

Sollte man bei sexuellen Missbrauchsfällen nicht stärker differenzieren anstatt von der Vergewaltigung bis zu verbalen Grenzüberschreitungen alles über einen Kamm zu scheren?

Gerade in der Differenzierung sehe ich eine Gefahr. Entscheidend ist die Folge, die ein Verhalten beim Opfer auslöst: die schwere Verletzung seiner Integrität, der Würde, des Ehr- und Schamgefühls. Wenn Außenstehende eine Hierarchie der Vergehen festlegen, erleben die Opfer dies oft als zweite Traumatisierung. Dies wird häufig von der Öffentlichkeit getan, aber auch von denen, die die Täter decken.

Ganz selten ist der Täter ja der Fremde, der hinter dem Busch hervorspringt. Häufig sind es Freunde, Familienmitglieder, Väter und - statistisch seltener - Mütter. Sie sind gesellschaftlich eingebunden - auch die Täter in den Gemeinden.

Missbrauchsopfer stehen oft in Abhängigkeit von den Missbrauchern, die ihrerseits starke Solidarität erleben, teils sogar von den Eltern des Opfers. Täter haben oft hochgradige Verbündete, die die eigene Integrität in der Gemeinde sichern.

Und deshalb trauen sich die Opfer nicht, die Täter zeitnah anzuzeigen?

Ja. Opfer spüren intuitiv: Wenn sie sich diesen Widerständen entgegenstellen, werden sie ein weiteres Mal zu Opfern. Sie wären plötzlich nicht nur dem Täter gegenüber isoliert. Deshalb kommt es zur Verdrängung und zu Verhaltensweisen, die den eigentlichen Sachverhalt umkehren. Die Opfer entwickeln Angst und Schuldgefühle. Manchmal identifizieren sie sich sogar mit demjenigen, von dem die Schuld ausging. Das nährt wiederum Schuldprojektionen von außen. Es heißt dann nicht selten: Das Opfer ist schuld. Es hat die Gelegenheit heraufbeschworen. Der Täter konnte gar nicht anders. Aber selbst wenn es dann so aussieht, als hätte das Opfer die sexuellen Handlungen selbst gewollt, handelt es sich bei Minderjährigen in jedem Fall um Missbrauch.

Dass Opfer kein Gehör in ihren Kirchengemeinden finden, hört man besonders häufig in Ostdeutschland. Sind Verdrängungs- und Abwehrmechanismen hier stärker ausgeprägt als im Westteil der Republik?

Da könnte etwas dran sein. Wir sind in einer Diktatur groß geworden. Viele haben die Kirche als einen Raum des Rückzugs und des Schutzes erlebt. Kommunikationskulturen wie in westdeutschen Gemeinden konnten sich hier in den 60er, 70er Jahren weniger entwickeln. Katholiken suchten in den Diasporagemeinden Schutz vor negativen äußeren Einflüssen. Ursprünglich sinnvolles Abwehrverhalten wird nun generalisiert und auf Situationen angewendet, in denen es eigentlich nichts zu suchen hat. Ich würde das aber auf keinen Fall verallgemeinern. Die Gemeinden sind sehr unterschiedlich. Und manchmal scheint es auch nur so, als würde das Thema sexueller Missbrauch komplett verdrängt. Untereinander wissen manche Gruppen und Gemeinden durchaus um die Gefährdungen und schützen sich auch gegenseitig.

Im Blick auf Altfälle aus den 50er oder 60er Jahren ist mitunter zu hören: Das waren doch ganz andere Zeiten. Man kann damaliges Verhalten nicht mit heutigen Maßstäben beurteilen ...

Bei sexuellem Missbrauch würde ich dem klar widersprechen. Auch damals gab es sexuelle Normen. Vor Jahrzehnten erlittene Verletzungen wirken häufig bis heute nach. Und die Opfer ringen oft lange mit sich selbst, ob sie an dieses Thema noch einmal herangehen. Viele schaffen es erst sehr spät, sich dem zu stellen, manche auch erst nach dem Tod des Verursachers. Traumatische Schäden muss man dem Opfer nicht ansehen. Manche Christen gehen nach einer Missbrauchserfahrung nicht mehr in die Kirche. Und erleben dann noch eine dritte Traumatisierung, wenn sie hören: Das ist auch so einer, der die Kirche nicht mehr anguckt. Als Psychiater habe ich mit einer Reihe von Menschen zu tun gehabt, die mir irgendwann gesagt haben: "Eigentlich bin ich ja auch katholisch." Ich habe da manche Gründe für ihre Abkehr von der Kirche gehört, die mir sehr plausibel schienen.


Ein Interview zum gleichen Thema mit der Erfurter Kirchenrechtlerin Professor Myriam Wijlens wird in der kommenden Ausgabe folgen.

Von Dorothee Wanzek

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