Mittendrin oder Außenseiterin?
Die Kirche in den Niederlanden war Thema einer Tagung in Erfurt
Erfurt (bkr/tdh). Mit der Kirche "als Mitgestalterin oder Außenseiterin" in der niederländischen Gesellschaft befassten sich Anfang Februar Wissenschaftler aus Theologie, Rechts- und Kommunikationswissenschaft in Erfurt. Zu der Tagung hatte die Katholisch- Theologische Fakultät der Universität Erfurt eingeladen.
"Wir verstehen oft selbst nicht, was in unserem Land los ist" - mit diesen Worten umriss Professor Erik Borgmann, Systematischer Theologe an der Universität Tilburg, die heutige Situation von Kirche und Gesellschaft in den Niederlanden. Borgmann konstatierte keine Atheisierung der Gesellschaft, aber einen Relevanzverlust der christlichen Kirchen. Religiöse Weltbilder seien gegen säkulare eingetauscht worden.
Je 30 Prozent der Niederländer gehören einer Kirche an, bezeichnen sich als religiös interessiert, zählen sich zu den Atheisten oder Antireligiösen. 900 000 Muslime leben im Nachbarland, etwa 200 000 besuchen regelmäßig Moscheen. Wiederholt war bei der Erfurter Tagung von einer Veränderung der religiösen Praxis die Rede, die aber keine Wiederkehr der tradierten Form der Kirchen des Abendlandes bedeute. So zeigte die Juristin und Politikerin, Professorin Sophie van Bijsterveld, wie das Verhältnis von Kirche und Staat in Bewegung geraten ist. Es gebe in den Niederlanden ein neues Interesse an Religion, das nach neuen Formen der gegenseitigen Bezogenheit verlange.
Zudem wurde deutlich: In der niederländischen Gesellschaft wird Religion häufi g als ein isoliertes Phänomen betrachtet, obgleich man es auch in Parallele zu anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sehen kann. Auf jeden Fall existiert ein öffentliches Interesse an Religion, demgegenüber ein alleiniges Beharren auf dem Trennungsprinzip von Staat und Religionsgemeinschaften nicht angemessen ist.
In der Öffentlichkeit als Kirche Spuren hinterlassen
Der Tilburger Ethiker, Professor Frans Vosman indes erläuterte für die deutschen Zuhörer verschiedene Aspekte der Euthanasiedebatte in den Niederlanden. Euthanasie sei auch dort verboten, dennoch gibt es Gründe, warum Ärzte in diesen Fällen nicht strafrechtlich verfolgt werden. Diese Konstruktion entspricht einem partiell anderen Rechtssystem, als man es in Deutschland kennt. Vosman erläuterte dazu das im Hintergrund stehende Beratungs- und Entscheidungssystem. Er beklagte dabei vor allem eine Soziologisierung der Rechtsmoral. Moral und Ausführungsregeln seien beständig in Bewegung. Nach Vosman fehlen der niederländischen katholischen Kirche Mitarbeiter, die sich an dieser Debatte qualifi ziert beteiligen können. Die Theologie werde hierbei nicht in Anspruch genommen. Die Kirche sei unfähig, die eigene Tradition gewinnend einzubringen. "Die Kirche verdampft", pointierte Vosman.
Der Amsterdamer Kommunikationswissenschaftler, Professor em. Joan Hemels verlangte, die Kirche müsse bei öffentlichen Diskussionen "mitsurfen". Die niederländischen Medien seien sich der Bedeutung von Religion bewusst, es gebe dafür auch einen Nährboden in der Gesellschaft. Nach Hemels muss die Kirche die Mitgestaltung öffentlicher Diskurse als grundlegende Aufgabe verstehen. Sie müsse Spuren hinterlassen. Dies sei allerdings nur möglich, wenn die Medienkompetenz entsprechend ausgeprägt ist.
Tollie Swinkels, Liturgiewissenschaftler in Tilburg und Lehrer für Religionsbildung, dokumentierte indes, dass religiös geprägte Rituale, aber auch im engeren Sinne kirchlich geprägte Wallfahrten und Prozessionen in den Niederlanden auf wachsende Resonanz stoßen. Gerade Wallfahrten sieht Swinkels als offenen Treffpunkt von Kirche und Gesellschaft, sie ermöglichten Menschen vielfältige Bezüge und Deutungen für das eigene Leben. Kirchliche Prozessionen in der Öffentlichkeit dienten der Bildung wie Vermittlung von Image, seien aber auch Erlebnis religiöser Identität.
Differenziertes Bild von Religion und Kirche
Die Referate und Diskussionen der Tagung zeigten ein differenzierteres Bild von Religion und Kirche in den Niederlanden, als es in Deutschland verbreitet ist. Die Organisatoren - die Kirchenrechtlerin Myriam Wijlens und der Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann, beide von der Universität Erfurt - wiesen auf die Parallelen wie Unterschiede zur Situation in Deutschland hin. Die Kenntnis der religiösen Situationen im Nachbarland hilft ihrer Ansicht nach, unterschiedliche religiöse Verhältnisse zu verstehen, die in der Politik der EU eine immer größere Beachtung fi nden. Beide hoben als bemerkenswert hervor, welche Pluralität religiösen und kirchlichen Lebens in den als säkularisiert eingeschätzten Ländern Westeuropas zu beobachten sei und sich offensichtlich auch immer wieder neu entwickle.
Mehr Infos: Professor Benedikt Kranemann , Tel.: 03 61 / 7 37 25 66 E-Mail: benedikt.kranemann@uni-erfurt.de