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Von den Nachbarn lernen

Im Umgang mit sexuellem Missbrauch ist die Kirche in anderen Ländern Deutschland weit voraus

Erfurt. Die Erfurter Kirchenrechtlerin Professor Myriam Wijlens hat jahrelange internationale Erfahrung mit der Aufarbeitung von Fällen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Als Beraterin ist sie zurzeit auch in deutschen Bistümern besonders gefragt.

Vor wenigen Tagen wegen Missbrauchs-Verwicklungen in die Schlagzeilen geraten: Das Kloster Wechselburg (das Bild entstand bei einem Bistumsjugendtag). Im Umgang mit Missbrauchsfällen könnte die Kirche in Deutschland viel aus der Erfahrung anderer Länder lernen, glaubt die Erfurter Kirchenrechtlerin Professor Myriam Wijlens.

Braucht es in Deutschland neue Gesetze und Regeln, um sexuellen Missbrauch in der Kirche wirksam bekämpfen zu können?

Es ist zu begrüßen, wenn die Deutsche Bischofskonferenz ihre 2002 verfassten Leitlinien überarbeitet. In Kanada und den Niederlanden, wo sich die Kirche diesem Thema bereits Ende der 80er bzw. Anfang der 90er Jahre angenommen hat, wurden die Leitlinien aufgrund der damit gesammelten Erfahrung mehrmals überarbeitet. Ungünstig scheint mir im deutschen Regelwerk etwa die Empfehlung an die kirchlichen Beauftragten, beschuldigten Priestern zur Selbstanzeige bei der Staatsanwaltschaft zu raten. Dadurch wird dem Täter die Möglichkeit gegeben, wichtige Beweismittel zu vernichten. Vor Gericht könnte das der Kirche als Beihilfe zur Verdunkelung ausgelegt werden.

Sinnvoll wäre ein Austausch mit allen deutschen Bistümern über die bisherigen Erfahrungen mit den Normen. In Ostdeutschland gibt es einen solchen Erfahrungsaustausch bereits. Seit 2008 kommen die Beauftragten der ostdeutschen Bistümer zweimal jährlich zusammen. Bereichernd wirkt sich dabei nicht zuletzt auch aus, dass die Kompetenz aus unterschiedlichen Berufsfeldern vertreten ist: Psychologie, Seelsorge, kirchliches und staatliches Rechtswesen...

Warum überlässt die Kirche die Bearbeitung der Fälle sexuellen Missbrauchs nicht einfach der staatlichen Gerichtsbarkeit? In der Öffentlichkeit ist teilweise der Eindruck entstanden, die kircheninterne Aufarbeitung sei ein Instrument der Vertuschung ...

Der Eindruck trifft aber nicht zu. Das kirchliche Rechtssystem ermöglicht oftmals gerade, Taten zu verfolgen, denen der Staat nicht nachgeht. Ich habe mehrmals erlebt, dass eine Tat aus Sicht des Staats verjährt war, die Kirche aber dennoch aktiv wurde und dem Täter beispielsweise die Erlaubnis entzog, weiter als Priester zu wirken. Manchmal liest man in staatlichen Urteilen: Zu erwarten ist, dass von kirchlicher Seite auch noch bestraft wird. Das zeigt meines Erachtens, dass es hier nicht um Mauschelei geht, sondern um ein parallel bestehendes Rechtssystem, das auch von staatlicher Seite ernst genommen wird.

Es gibt natürlich auch Interessenkonfl ikte: Bei Verdacht auf Kinderpornographie zum Beispiel ist die Kirche grundsätzlich daran interessiert, dass umgehend eingeschritten wird. Die Staatsanwaltschaft will in manchen Fällen aber erst einmal beobachten. Es gibt also auch in der Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat noch Klärungsbedarf.

Gegenwärtig werden Forderungen an Staat und Kirche lauter, die Verjährungsfristen für Missbrauchsdelikte komplett abzuschaffen. Sehen Sie dafür Chancen?

Das Strafrecht der katholischen Kirche wurde ja 2001 vom Vatikan geändert. Bis dahin gab es nur eine fünfjährige Verjährungsfrist. Seither beginnt die Verjährungsfrist - unabhängig vom Alter des Opfers zur Tatzeit - mit dem 18. Geburtstag und läuft dann noch zehn Jahre. Heute scheint dies aus Sicht der Opfer wieder zu kurz. Aber man darf auch nicht außer Acht lassen, dass Verjährungsfristen durchaus ihren Sinn haben. Die Erinnerung der Beteiligten wird mit wachsendem zeitlichen Abstand immer schwieriger. Aus diesem Grund sind Delikte strafrechtlich irgendwann nicht mehr verfolgbar. Es gibt im kirchlichen Strafrecht die Möglichkeit, einen Dispens von der Verjährungsfrist in Rom zu beantragen. Davon wurde auch mehrfach Gebrauch gemacht.

Wichtig scheint es mir in diesem Zusammenhang zu unterscheiden zwischen dem, was strafrechtlich relevant ist und dem Vertrauensverlust der Kirche. Der ist mit strafrechtlichen Mitteln nicht wettzumachen und wird nicht so schnell verjähren. Für den Staat ist die Sache erledigt, wenn der Täter gestorben ist. In der Kirche muss man sich dagegen bewusst machen: Ihm wurde Vertrauen entgegengebracht, weil er Mitarbeiter der Kirche ist. Der Täter hat das immense Vertrauen missbraucht, das die Kirche als Institution - mit Recht - genießt. Insofern nimmt an jedem einzelnen Fall die gesamte Kirche Schaden, der kaum zu reparieren ist.

Wie kann man den Opfern am besten helfen? Sind Entschädigungsleistungen hilfreich?

Das ist ein schwieriges Thema. Anders als beispielsweise in den USA gibt es in Deutschland ja eine komplette medizinische Versorgung, so dass die Opfer in der Regel für die Therapie nicht auf fi nanzielle Unterstützung angewiesen sind. Versteht man eventuelle Zahlungen eher als moralische Entschädigung, stellt sich die Frage: Wie will man das Leid bewerten? Und wer soll für die Kosten aufkommen, wenn der Täter bereits verstorben ist? Wichtiger scheint es mir, dass die Opfer nicht alleingelassen werden und Hilfe erfahren, mit ihrem Leben zurechtzukommen.

Was erwarten sich denn die Opfer, die sich an die Kommissionen der Bistümer wenden?

Wir hören immer wieder: Ich möchte, dass der Missbrauch aufhört, dass anderen nicht das gleiche passiert und dass anerkannt wird, dass nicht ich für das Geschehen verantwortlich bin. Ihnen ist wichtig, dass jemand objektiv sagt: Das, was Ihnen geschehen ist, war Unrecht. Fast immer wollen die Opfer keine Öffentlichkeit, weil sie sich davor fürchten, dadurch ein weiteres Mal zu Opfern zu werden und weil sie sich dafür schämen, dass sie nicht Nein sagen konnten. Wenn sich Menschen an uns wenden, die sich einfach nur aussprechen wollen, ohne rechtliche Konsequenzen, müssen wir als Kommissionsmitglieder das Gespräch ablehnen und raten zu einer geistlichen Begleitung. In unseer Funktion als Kommissionsmitglieder geht es um Aufklärung, aus der man dann auch Konsequenzen ziehen kann. Da sind wir auch an keinerlei Schweigepfl icht gebunden.

Geraume Zeit war es offenbar gang und gäbe, dass Priester und Ordensleute, denen Missbrauch nachgewiesen wurde, einfach versetzt wurden. Auch nach Einführung der neuen Regeln des Vatikans und der Deutschen Bischofskonferenz in Deutschland scheint diese Praxis - wie die jüngst bekannt gewordenen Fälle aus dem Kloster Wechselburg (siehe Meldung Seite 9) wieder einmal zeigen - noch nicht endgültig überwunden ...

Der Vatikan hat bereits vor Jahren gemahnt, beim Wechsel von Priestern in andere Bistümer verstärkt auf mögliche Vorwürfe zu sexuellem Missbrauch an Minderjährigen zu achten. In den Niederlanden wurde ein entsprechendes Formular eingeführt, das der bisherige Dienstherr jedem Priester im Falle eines Bistumswechsels ausstellen und mitgeben muss. Man muss in dieser Frage aber gut hinschauen, was der Beschuldigte getan hat. Das gilt für die Kirche ebenso wie für den Staat. Dementsprechend muss entschieden werden, wo er arbeiten und wohnen kann, welche Aufl agen er bekommt und welche Supervision.

Ich weiß von einem pädophilen Ordensmann, dessen Straftaten bereits verjährt waren, als sie ans Licht kamen. Er wurde als Priester entlassen. Wir haben ihn aber im Kloster gelassen, um zukünftige Opfer vor ihm zu schützen. Er bekommt keinen Internetzugang in seiner Zelle, darf nicht ohne Abmeldung wegreisen, muss ein Fahrtenbuch führen und steht unter Aufsicht einer pensionierten Kriminalkommissarin für Sexualdelikte, die darauf trainiert ist, die Spielchen wahrzunehmen, die Sexualtäter mit sich selbst und ihrer Umwelt immer wieder spielen, um ihr Verhalten zu rechtfertigen.

Es gibt Länder - zum Beispiel, England oder die USA -, die mit der Wiedereingliederung von Sexualstraftätern in die Gesellschaft weitaus mehr Erfahrungen gesammelt haben als Deutschland. Auch in England kommen kirchliche Mitarbeiter, die zu Sexualstraftätern werden, nach Verbüßung ihrer Strafe oft in ein neues Umfeld, das allerdings genau informiert sein muss. In den USA gibt es eine Firma, die Zertifi kate abgibt für Arbeitsplätze und Wohnräume, die für Menschen mit sexuellen Fehlanlagen geeignet sind. Orte, an denen sie nicht mit Kindern und Jugendlichen in Berührung kommen und an denen andere Gefährdungen wegfallen - ähnlich wie bei einem Alkoholiker. Dem würde sinnvollerweise auch niemand einen Arbeitsplatz in einer Kneipe anbieten. Natürlich hat die Kirche an allererster Stelle Verantwortung für die Opfer. Sie hat aber auch Verantwortung für die Beschuldigten und für die Täter.

Schlägt sich dieses Verantwortungsbewusstsein auch in vorbeugendem Handeln nieder? Wie schätzen Sie etwa die Ausund Weiterbildung der Priester auf diesem Gebiet ein?

Da könnte sicherlich noch einiges mehr getan werden. Gelungen fi nde ich ein Modell in den Niederlanden. Junge Priester bekommen dort während einer längeren berufl ichen Einstiegsphase intensive Supervision. Themen sind dort unter anderem die Arbeitsorganisation, der Umgang mit Kritik, mit Hochs und Tiefs, aber eben auch mit den eigenen Gefühlen und der Sexualität.

Der Supervisor stellt Fragen wie etwa "Warum besuchen Sie diese junge Witwe eigentlich immer abends um halb zehn? Warum machen Sie ausschließlich mit Jugendlichen Urlaub? Haben Sie eigentlich noch Freunde? Wie reagieren Sie, wenn ein Gemeindemitglied Sie anhimmelt?" Es geht darum, sich Gefühle und sexuelle Neigungen selbst bewusst zu machen und zu lernen, damit umzugehen.


Zur Person

Myriam Wijlens, Professorin für Kirchenrecht an der Universität Erfurt, ist seit 1987 mit dem Thema sexueller Missbrauch in der Kirche konfrontiert. Als junge Studentin arbeitete sie damals an der Entwicklung der Leitlinien der Kanadischen Bischofskonferenz mit. Auch die niederländischen Leitlinien hat sie mitentwickelt. Heute gehört sie zur Kommission, die im Bistum Münster Missbrauchs-Fälle bearbeitet und wird auch in ostdeutschen Bistümern als Beraterin hinzugezogen.

Von Dorothee Wanzek

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