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Mich mit Gottes Augen sehen

Gebetsformen: Ein barmherziger Rückblick auf den eigenen Tag

In der Fastenzeit stellt der Tag des Herrn an dieser Stelle verschiedene Gebetsformen vor. Heute: Das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit.


"Ich mag es lieber sachlich", sagt Ottmar Leidner aus Bad Klosterlausnitz. Anstelle von "Gebet der liebenden Aufmerksamkeit" bevorzugt er deshalb den Begriff "Tagesrückblick". Seine Frau Cordula beschreibt, worum es geht: "Ich bringe den zurückliegenden Tag vor Gott zur Sprache und schaue dabei zuallererst darauf, was mich gefreut hat."

Für das Ehepaar ist diese Gebetsform ein Experimentierfeld, an dem sich beide Partner schon versuchen, seit sie einander kennen. "Es ist ganz anders als die Gewissenserforschung, wie sie mir in meiner Erstkommunionvorbereitung nahegebracht wurde", sagt Cordula Leidner. "Da ging es vor allem darum, nach den eigenen Fehlern zu suchen." In ihrem Tagesrückblick macht sie sich bewusst, dass sie vor Gott steht und dass er sie vorbehaltlos liebt. Dann hält sie sich vor Augen, wer ihr im Laufe des Tages begegnet ist. "Ich frage mich dann schon auch, wem ich etwas schuldig geblieben bin. Aber dann verliere ich mich nicht in Selbstvorwürfen, sondern halte all dies dem Herrn hin und bitte ihn, es zu verwandeln."

Kennengelernt haben Cordula und Ottmar Leidner die Gebetsform bei der Gemeinschaft Christlichen Lebens, der sie seit vielen Jahren angehören. Sie ist aus der ignatianischen Praxis der Reflektion hervorgegangen. Den Begriff "Gebet der liebenden Aufmerksamkeit" hat der Jesuitenpater Willi Lambert vor über 20 Jahren geprägt. "Wahrscheinlich war dieser Begriff damals wichtig, um deutlich zu machen: Es geht hier nicht darum, sich zur Ordnung zu rufen", vermutet Ottmar Leidner.

"Heute musst du ihn bitte doppelt lieben!"

Für ihn und seine Frau ist der Tagesrückblick eingebettet in eine geistliche Lebensweise im Geist des heiligen Ignatius von Loyola. Der Tag beginnt für sie - jedenfalls im Idealfall - mit einer halbstündigen stillen Zeit am Morgen und endet mit dem Tagesrückblick, der - wie Ottmar Leidner einräumt - manchmal nur 20 Sekunden dauert. "Niemand soll die Illusion haben, dass das jeden Tag klappt", möchte er potenziellen Neueinsteigern auf den Weg geben. Durststrecken und Selbstdisziplin, Umwege, Kurven und Neuanfänge gehören dazu, sagt er aus Erfahrung. Im Laufe der Zeit ist der Tagesrückblick für ihn wie für seine Frau dennoch zu einem Bedürfnis geworden. "Wenn ich es unter den Tisch fallen lasse, bekomme ich Sehnsucht danach", formuliert Cordula Leidner. Sie spürt relativ schnell, dann "weniger bei sich selbst" zu sein.

Regelmäßige Exerzitien hätten dazu geführt, dass ihm mit dem Jahren immer klarer werde, was in seinem Leben wirklich wichtig ist, sagt ihr Mann. Den Tagesrückblick nicht fahrlässig "schleifen" zu lassen, ist für ihn eine logische Konsequenz aus dieser Erkenntnis: "Wenn man sich immer mehr darauf ausrichtet, die Ideen Gottes auf diesem Planeten umzusetzen, ist es doch nur folgerichtig und selbstverständlich, dass man versucht, alle Mittel einzusetzen, die dazu förderlich sind."

Folgerichtig scheint es da auch, dass Auswirkungen der regelmäßigen Gebetsübung auf den Alltag nicht ausbleiben. Selbst der Ehe- Alltag ist davon nicht ausgenommen: "Auch manchen Zoff, den ich mit meinem Mann hatte, habe ich dem Herrn vorgetragen", erzählt Cordula Leidner. "Ich sage dann zum Beispiel: Heute hab ich mich so über meinen Mann geärgert. Da musst du ihn doppelt lieben und für ihn beten. Ich schaffe das heute nicht." Sie ist gelassener geworden in ihrer Ehe und in anderen Beziehungen: "Ich beiße mich nicht mehr so sehr daran fest, wo es denn nun genau hakt. Ich tue die kleinen Schritte, die ich tun kann und bitte Gott, den Rest zu tun. Das schenkt mir Gelassenheit, guten Schlaf und die Fähigkeit, schneller den ersten Schritt auf den anderen zuzugehen.

Erweiterte Wahrnehmung von Kirche und Gesellschaft

"Für mich bettet sich der Tagesrückblick ein in das Thema Hoffnung", sagt Ottmar Leidner. Vieles läuft der öffentlichen Wahrnehmung zufolge in Gesellschaft und Kirche derzeit in eine falsche Richtung. Die im Tagesrückblick eingeübte Sicht auf die Wirklichkeit bringt ihn dagegen dazu, nicht allein die Abwärtsbewegungen und Verfallserscheinungen wahrzunehmen. Die Auswirkungen der Liebe und Barmherzigkeit Gottes lassen sich nicht nur im persönlichen zwischenmenschlichen Bereich ausmachen, ist er überzeugt.

Von Dorothee Wanzek

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