Gefahr der Vereinsamung
Wunibald Müller über die psychische Gesundheit von Priestern
Münsterschwarzach (ep). Angesichts der Delikte sexuellen Missbrauchs werden Zusammenhänge mit Homosexualität, Pädophilie und Zölibat diskutiert. Der Leiter des Recollectio- Hauses der Benediktiner-Abtei Münsterschwarzach, Wunibald Müller (59) ist Experte für diese Fragen.
Im Zusammenhang der fortlaufend bekannt werdenden Fälle sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Raum hat sich der Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller besorgt und kritisch über die Lebensverhältnisse von Geistlichen in der Kirche geäußert. "Viele Priester und Ordensleute sprechen, wenn sie offen darüber reden können, von ihrer Vereinsamung und ihrem Verlangen nach Intimität" zu Mitmenschen, schreibt Müller in einem Beitrag für die April-Ausgabe der in München erscheinenden Monatszeitschrift "Stimmen der Zeit".
Eine Reihe von Geistlichen fühle sich in ihren Gemeinschaften und Kollegien nicht wirklich getragen und geborgen. Sie würden eine von Vertrauen getragene Atmosphäre vermissen, in der ein echtes Interesse aneinander und die Sorge füreinander selbstverständlich sind. Wem jedoch die Nahrung aus guten zwischenmenschlichen Beziehungen fehlt, so Psychotherapeut Müller, sei in der Gefahr, seinen Hunger anderswo zu stillen.
Den Raubbau an sich selbst nicht heiligsprechen
Umso mehr sei es notwendig, dass die Gemeinschaften, zu denen Priester und Ordensleute gehören, "ein großes Interesse am Wohlergehen des Einzelnen" haben. Dazu gehöre, dass sich die Geistlichen "nicht auf Dauer über Gebühr verausgaben, sondern sich in angemessener Weise auch um sich selbst kümmern können". Dazu sei auch eine entsprechende Theologie beziehungsweise Spiritualität des jeweiligen Ordens oder der Diözese vonnöten. In dieser müsse "das persönliche Wohl des einzelnen Priesters und Ordensmitgliedes genauso wichtig sein wie ihr Dienst für andere". Keinesfalls darf "der Raubbau an sich selbst heilig gesprochen werden", betont Müller.
Der Seelsorger und Psychotherapeut mahnt, die psychische Gesundheit der Priester und Ordensleute zu fördern. "Zur psychischen Gesundheit trägt bei, wenn durch die Ausbildung und auch danach eine normale sexuelle Entwicklung und einhergehend damit die Fähigkeit des Priesters oder des Ordensmannes zur Intimität gefördert wird." Beziehungen, die die Erfahrung von Intimität ermöglichen, in denen Priester oder Ordensleute sich wirklich getragen und geborgen erleben, können einen Schutz vor potentiellem Missbrauch bieten, schreibt Müller.
Im Blick auf die Auswahl der Priesterkandidaten verlangt der Theologe und Therapeut strenge Kriterien: "Ein sorgfältiger Ausleseprozess, der die Einbeziehung von psychologischen Fachleuten und gegebenenfalls auch Tests erfordert, ist ein Muss", heißt es in einem Beitrag in der März-Ausgabe der Herder-Korrespondenz.
Für Müller gehören genauso sexuell unreife bisexuelle wie homosexuelle Männer zur Risikogruppe, Missbrauchs-Täter zu werden. Im Blick auf die Missbrauchsfälle durch katholische Geistliche gelte es jedoch zu bedenken, dass "der Anteil an homosexuellen Männern unter den katholischen Priestern in Deutschland, Österreich und der Schweiz deutlich über dem Durchschnittsprozentsatz von rund fünf Prozent liegt, der für die Gesamtbevölkerung angenommen wird", nicht aber so hoch wie in den USA sei, wo nach Untersuchungen bis zu 30 Prozent der katholischen Priester und Ordensleute homosexuell sein sollen. Daraus könne generell aber nicht geschlussfolgert werden, dass homosexuelle Priester besonders anfällig für pädophiles (sexuelle Neigung zu Kindern von 13 Jahren und jünger) oder ephebophiles (sexuelle Neigung zu Jugendlichen bis 17 Jahren) Verhalten sind, betont der Psychotherapeut. Allerdings müsse davon ausgegangen werden, "dass der Anteil sexuell unreifer homosexueller Priester überdurchschnittlich hoch ist und diese Gruppe für pädophiles und ephebophiles Verhalten besonders anfällig ist".
Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität
Hier sieht Müller ein zentrales Problem: Neben vielen Priestern, die in reifer Weise und verantwortungsvoll mit ihrer Sexualität umzugehen wüssten, gebe es Geistliche, "die die notwendige Auseinandersetzung mit ihrer Sexualität, die auch zu einer Annahme ihrer gegebenenfalls homosexuellen Veranlagung führen sollte, unterlassen". Dabei sei es für den zölibatär lebenden Priester genauso wie für in Partnerschaft lebende Menschen entscheidend, die eigene Sexualität "zuzulassen, zu entfalten, mit ihr in Berührung zu kommen und sie unabhängig davon, ob wir ehelos oder in einer Beziehung leben, für unser Leben fruchtbar zu machen".
Folge einer mangelnden Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtlichkeit durch Priester und Ordensleute sei, dass die sexuelle Entwicklung auf der Strecke bleibe. Dabei dürfte die Vermeidungshaltung "durch eine nach wie vor vorhandene Tabuisierung von Homosexualität im kirchlichen Kontext noch verstärkt werden". Daneben gebe es unter den zölibatär lebenden homosexuellen Priestern aber viele, "die sehr wohl in der Lage sind, auf eine reife Weise und verantwortungsvoll mit ihrer Sexualität umzugehen".
Eine direkte Verbindung zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch in dem Sinne, dass der Zölibat die Ursache für sexuellen Missbrauch ist, lasse sich nicht nachweisen, betont Müller. Der Zölibat oder eine verzerrte Vorstellung davon könne aber bei manchen Priestern dazu führen, dass eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität und vor allem der mühevolle Weg zur Fähigkeit einer positiv gestalteten Intimität zu Männern und Frauen unterbleibt. Doch genau dies sei für die Seelsorger wichtig: Sie müssen für ihren Dienst an Menschen zu innigen, tiefen Beziehungen fähig sein. Manchem Kleriker fehle jedoch die psychische Reife, die ihn befähigen würde, solche Beziehungen zu entwickeln, zugleich aber die Intimsphäre einer anderen Person zu respektieren und das eigene Verhalten der anderen Person gegenüber entsprechend zu kontrollieren.
Müller plädiert für einen differenzierten Umgang mit Priestern, die sich des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht haben und nach Therapien wieder in ihrem Dienst arbeiten wollen. Dies sei zwar schwieriger und komplizierter zu handhaben als eine Null- Toleranz-Lösung. Ein Priester, der Minderjährige missbraucht hat und bei dem eine entsprechende pädophile oder ephebophile Fixierung vorliegt, sollte weder in der Jugendarbeit noch in anderen Formen der Seelsorge im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen tätig sein. Er "leidet an einer Krankheit, die in der Regel nicht heilbar ist". Für ihn müsse nach einer entsprechenden persönlichen Weiterentwicklung "eine Form gefunden werden, in der er seine priesterliche Identität leben und zum Ausdruck bringen kann".
Priestern, bei denen durch Gutachten ausgewiesener Fachleute bestätigt keine pädophile oder ephebophile Veranlagung vorliegt, und es sich bei ihrer Tat um ein einmaliges regressives Verhalten handelt, kann "im Einzelfall nach erfolgreicher Psychotherapie eine klar umgrenzte Tätigkeit im Bereich der Seelsorge möglich sein".
Beiträge von Wunibald Müller im Internet: www.stimmen-der-zeit.de