Anstoß
Wohnt da der Gott?
Vor unserer Kirche steht ein großer Schaukasten. Ich bin gerade damit beschäftigt, neue Plakate auszuhängen, als hinter mir eine Frage zu hören ist: "Mama, was ist das?" Ein kleines Mädchen schaut interessiert zu unserem Kirchengebäude herüber. Als die Mutter erklärt, dies sei eine Kirche, fragt das neugierige Mädchen weiter: "Wohnt da der Gott?" Die Antwort konnte ich leider nicht mehr hören. Aber ich war versucht, hinterher zu rufen: "Ja, da wohnt der liebe Gott."
Man könnte sagen, es war die naive Frage eines Kindes, das von Gott und Jesus Christus wahrscheinlich noch nie etwas gehört hat. Und doch hat dieses Mädchen eine Ahnung davon, worum es bei der Kirche geht. Wie gesagt, ich habe nicht gehört, was die Mutter gesagt hat. Vielleicht hat sie auf die Frage ihrer Tochter gar nicht geantwortet. Vielleicht hat sie auch erklärt, dass der liebe Gott eine Einbildung ist wie der Weihnachtsmann oder der Osterhase. Die beste und einfachste Antwort ist diese Mutter auf jeden Fall schuldig geblieben: "Komm, wir sehen mal nach."
Sie hätte ihrem Kind die Chance geben können, sich selber eine Meinung zu bilden. So kann das Mädchen nur nach dem entscheiden, was ihr gesagt worden ist. Und vermutlich wird sie ihre Frage nicht noch einmal stellen. Was hätte die Mutter riskiert, wenn sie ihrer Tochter die Tür zu diesem Haus geöffnet hätte? Bestenfalls hätte sich das Mädchen hier und da umgeschaut und enttäuscht festgestellt, dass der liebe Gott gar nicht da ist. Aber vielleicht hätte sie ganz von allein erkannt, dass Gott nicht zu vergleichen ist mit dem Weihnachtsmann oder dem Osterhasen, den die Menschen erfunden haben. Vielleicht hätte sie verstanden, dass ein Haus für Gott nicht der Ort ist, an dem sein Bett steht (vergleiche dazu Jesaja 66,1). Und vielleicht hätte sie ein Licht angezündet und dabei auf die Stille gehört.
Das ist wie die Geschichte eines Mannes, der schweigend in der Kirche sitzt. Ein Priester fragt ihn, was er da macht. Er antwortet: "Ich schweige und höre Gott zu." Auf die Frage, was Gott spricht, antwortet der Mann: "Gott schweigt auch." In der Kirche sind wir schnell mit fertigen Antworten bei der Hand. Wir haben Antworten für Gottsucher, Arbeitslose, Alkoholiker, Alleinerziehende, Obdachlose und Aussiedler. Wir kümmern uns um Menschen in allen Lebenslagen. Viele sehen in der Kirche darum vor allem eines: eine gewaltige Hilfsorganisation. Der Glauben verkommt demgegenüber zur unbestimmten Handlungsmotivation. Dabei ginge es doch darum, die Menschen dem Evangelium gemäß einzuladen: "Komm und sieh!" (vergleiche dazu Johannes 1,43-51). Vor Gott gleichen wir alle dem kleinen Mädchen, dem es gut getan hätte, selber zu sehen.
Kaplan Marko Dutzschke, Cottbus