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Ohne Gott: Menschsein in Gefahr

Zeitzeuge Propst Gerhard Nachtwei: 20 Jahre nach der Wende ist christliche Kernkompetenz gefordert

Magdeburg. Die Kirche muss heute viel stärker deutlich machen, dass der Glaube an Gott und die Überzeugung von der einzigartigen Würde des Menschen eng miteinander zusammenhängen. Zu diesem Schluss kommt der Dessauer Propst Gerhard Nachtwei im Rückblick auf die vergangenen 20 Jahre seit der Friedlichen Revolution.
"Was würden wir sagen, wenn es die DDR noch gäbe?" Mit dieser Frage macht der Dessauer Propst und Domkapitular Gerhard Nachtwei auch seinen skeptischen und die heutige Situation kritisch beurteilenden Zuhörern zunächst ohne viele Worte deutlich, wie viel sich seit den Tagen der Friedlichen Revolution von 1989/90 verändert hat und wofür die Menschen heute dankbar sein können und sollten. "Gut, dass es so gekommen ist", so Nachtwei, der in der Zeit von 1989/90 selbst Akteur der Veränderungen in Magdeburg war. Der Seelsorger sprach und spricht dieser Tage auf Einladung der Katholischen Akademie des Bistums Magdeburg in Magdeburg, Halberstadt und Halle (am 17. Februar) über "20 Jahre Wende - Anfragen an die Kirche heute".


"Als die Veränderungen des Herbstes 1989 noch relativ frisch waren, besuchte uns der jüdische Theologe und Religionsphilosoph Pinchas Lapide (1922-1997) in Magdeburg", erzählt Nachtwei. "Er sagte uns: Es ist bei euch wie beim Auszug aus Ägypten. Ihr musstet die Angst verlieren, um den Auszug zu wagen. Aber vergesst nicht: Auf der anderen Seite des Roten Meeres ist nicht das gelobte Land. Dort stehen 40 Jahre Wüstenwanderung bevor."

Nachtwei, der von (1989)1990 bis 1997 das Seelsorgeamt des Bischöfl ichen Amtes und ab 1994 des Bistums Magdeburg leitete, kann sich noch gut an die Angst erinnern, die er am 9. Oktober auf dem Weg zu Gebet und friedlicher Zusammenkunft im Magdeburger Dom hatte. "Die Herrschaft der Mächtigen in der DDR war überhaupt auf Angst aufgebaut", so der langjährige Seelsorger. "Du kannst kein Abitur machen, wenn du nicht zur Jugendweihe gehst. Du kannst nicht studieren, wenn du nicht drei Jahre zur Armee gehst", waren etwa Angst machende Drohungen gegenüber Christen. "Es könnte geschossen werden", war eine der Ängste am 9. Oktober 1989. "Ich hatte aber noch mehr Angst davor, es könnten nur wenige Leute in den Dom kommen", so Nachtwei. "Doch meine Sorge war unbegründet. Der Dom war voll. Die Angst war gebrochen ... ."

Der Auszug ist gelungen. Die nächste Station ist jetzt der Sinai, sagt Nachtwei. "Was ist mit unseren Hoffnungen von damals geworden?" Reisen kann man heute, wohin man will, vorausgesetzt, man kann es bezahlen. Lesen kann man, was man will. Frei reden kann man, sich vielfältig engagieren. Aber es gab und gibt auch "eine Katerstimmung", auch in der Kirche. Wie sieht es aus in der Gesellschaft? Wie steht es um die Menschen? "Manche hatten einen kirchlichen Neuaufbruch erwartet. Der kam nicht. Der evangelische Domprediger Giselher Quast habe ihm in den Tagen der Revolution gesagt: "Bruder Nachtwei, wenn das hier zu Ende ist, werden die Kirchen leerer sein als vorher."

Kerngeschäft: Menschen mit Gott in Berührung bringen


Wohl noch mehr unter evangelischen als katholischen Theologen sei die Auffassung verbreitet gewesen, und sie sei es bei einigen vielleicht immer noch: Wenn sich der Westen nicht so eingemischt hätte, hätten wir in der Friedlichen Revolution hierzulande eine Gesellschaft schaffen können, wie es sie vorher noch nicht gab ..., so Nachtwei. "Wie gehen wir um mit diesen Enttäuschungen?"

"Kerngeschäft von Kirche jedenfalls ist es, Menschen mit Gott in Berührung zu bringen. Das ist die Mitte unseres Christseins", erinnert der Dessauer Propst. In Großbritannien gebe es derzeit eine vom Verband britischer Humanisten organisierte Anti-Gott- Kampagne, so Nachtwei. 200 Busse in London und weitere 600 in ganz Großbritannien sind mit der Aufschrift "There`s probably no god, now stop worrying and enjoy your life (Es gibt wahrscheinlich keinen Gott, mach dir keine Sorgen und genieße dein Leben)." versehen. Auch in Spanien sei eine ähnliche Kampagne im Gange.

"Die Initiatoren sind schlau und gerissen genug zu formulieren, ,es gibt wahrscheinlich keinen Gott‘. Viel interessanter aber ist, womit sie diese Aussage verbinden, nämlich: ,Mach dir keine Sorgen, genieße dein Leben‘", sagt Nachtwei. "Ohne Gott kannst du das Leben genießen". "Nach meiner Überzeugung aber", sagt der 64-jährige Nachtwei, "bedeutet die Abschaffung Gottes auch die Abschaffung des Menschen". "Den Menschen, die ich als Gefängnisseelsorger im Knast treffe, kann ich nicht sagen: Es gibt keinen Gott, mach dir keine Sorgen, genieße dein Leben. Sexuell verwahrlosten Kindern, die von frühen Jahren an nur im Sex ein Erfolgserlebnis haben, kann ich nicht sagen: Es gibt keinen Gott, aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen ... Oder Kindern, die in der Schule nicht gut sind. Wie menschenverachtend sind also solche hundertfachen Aufschriften an Bussen in der Öffentlichkeit", so der Seelsorger.

"Als Christen hüten wir das Geheimnis, dass Gott und Mensch zusammengehören. Wenn den Menschen Gott entzogen wird, hört auch der Mensch auf, Mensch zu sein. Dies müssen wir als Christen unseren Zeitgenossen deutlich nahe bringen. Das ist Aufgabe von Kirche, und es ist in den zurückliegenden 20 Jahren zu wenig passiert. Es muss deutlich werden, dass Christen nicht zuerst eine zu glaubende, religiöse Theorie vertreten, sondern vorleben, wie menschenwürdiges Menschsein aussehen kann." Christentum sei nicht so sehr religiöses Lehrgebäude, sondern vor allem der Einsatz für das Heil des Menschen. Jesus ist um unseres Heiles willen vom Himmel gekommen, heißt es im Großen Glaubensbekenntnis deutlich.

Bezogen auf die Erfahrung des Volkes Gottes auf dem Sinai bedeute dies: Gott hat den Israeliten die Gebote gegeben, um ihr Menschsein zu schützen. Kerngeschäft der Kirche müsse es darum heute sein, zu vermitteln, "dass der Glaube an Gott zur Menschlichkeit befreit", so der Theologe. Dieses Kerngeschäft könne durchaus auch eine kleine Kirche betreiben.

Zuerst die Liebe und der Geist, dann die Gebote


Das habe für die Wanderung über den Sinai zur Konsequenz, dass Christen ganz nach dem typisch katholischen "et ... et (sowohl als auch)" leben müssen: "Die Kirche kann ihre Botschaft nicht ohne gewisse Formen und Gebote verkündigen, aber an erster Stelle muss der Geist, muss die Liebe stehen", sagt Nachtwei. Wenn in der evangelischen Kirche von sola gratia (allein die Gnade), sola fi dei (allein der Glaube), sola scriptura (allein die Schrift) die Rede sei, heiße dies "auf Ökumenisch: Zuerst der Geist und die Liebe, aber auch die Institution, zuerst die Freiheit der Kinder Gottes, aber auch die Gebote und Normen". In dieser Spannung vollziehe sich Leben. Und es gelte diese Spannung auszuhalten um des Heils der Menschen willen.

Spannungen hält Nachwei in allen Bereichen der Wirklichkeit für lebensfördernd. So gebe es immer auch eine Spannung zwischen Vision und Realität. "Es braucht Visionen, leider gibt es davon oft zu wenig", sagt Nachtwei. Insofern sei stets die Frage zu stellen, mit welchem Verständnis von Wirklichkeit jeder an das Lebens herangeht. "Es gilt Schwierigkeiten nicht auszuklammern, aber eben auch Visionen zu haben."

Von Eckhard Pohl

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