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Geistlich leben mit offenen Augen

Gut sein gelingt nicht immer

Auch in der Kirche gibt es Versagen, Schuld und Sünde. Es gibt keinen Grund, davor die Augen zu verschließen, meint Guido Erbrich aus Bautzen.

Guido Erbrich Im Sommer 1987 saßen wir, eine bunte Gruppe junger Männer, in einer Magdeburger Wohnung zusammen. Alle waren gestartet, Priester werden zu wollen. Das Schuljahr im Norbertuswerk sollte in Kürze beginnen. Wir waren voller Hoffnungen und Erwartungen und fühlten uns beinahe als Auserwählte. Unsere Aussicht: Mitten in der DDR ein freies Studium, keine Zensur, eine Bibliothek voller "verbotener" Bücher und das alles gemeinsam mit frommen tollen Leuten.

Eingeladen hatte Spiritual Norbert Kiesel, ein freundlicher rundlicher Priester, der nichts Arges erwarten ließ. Dann fing er an. "Alles, was ihr euch in eurer verdorbensten Fantasie vorstellen könnt, und selbst das, wo diese Fantasie nicht mehr reicht, all das kommt in unserer Kirche vor."

Uns fielen die Kinnladen herunter. Waren wir nicht gerade in einer heilen Welt gelandet, wenigs-tens in einer Welt, die heiler ist als das verlogene DDRSystem, das uns umgab? "Wer die Augen davor verschließt und die Scheuklappen hochfährt, erleidet über kurz oder lang Schiffbruch", setzte Norbert Kiesel fort. Er schaute mit seinen freundlichen Augen in die Runde und sprach ruhig weiter. "Wer aber dabei vergisst, dass es auch das Gegenteil in unserer Kirche gibt, wer nur noch nach Enttäuschendem, Falschem und Kaputtem schaut, dem wird es nicht viel besser gehen. Wir dürfen uns mit dem einen nicht abfinden und das andere nicht vergessen. Dann kann es uns vielleicht gelingen, ein Leben lang an dieser Kirche nicht zu verzweifeln."

Nun war Norbert Kiesel alles andere als ein überkritischer Revoluzzer. Er war ruhig und bedacht, ein durch und durch frommer Mensch, ein geschätzter geistlicher Berater und Beichtvater. Er war einer, der das Wort "geistlich" selten im Munde führte; er lebte es einfach; im besten Sinne konservativ, mit offenen Sinnen und weitem Herz. Und dann so etwas.

Doch bald wurde deutlich, auf welche Gefahr er uns vorbereiten wollte. Denn es ist eine große Versuchung, über vieles einen eigenartigen schweigenden Mantel sogenannter christlicher Nächstenliebe zu legen. Dann werden Dinge und Standpunkte vertuscht und verteidigt, nur weil geglaubt wird, die Kirche gerät in Gefahr, wenn Missstände entdeckt werden. Dabei gibt es kaum etwas an Argem in der Gesellschaft, dass nicht auch in der Kirche zu finden ist. Und es gibt keinen Grund, davor die Augen zu verschließen. Schließlich bilden wir unterschiedlichsten Menschen Kirche und alle sind wir auch Sünder. Das ist schon biblisch bezeugt. Von Anfang an haben Christen mit Konflikten zu tun und der Apostel Paulus erweist sich mehr als einmal als "Gemeindeberater" und "Konfliktmanager". Immer zeigt er einen "christlichen Weg" im Umgang mit Versagen und Schuld. Dazu gehören ein ehrliches und offenes Klima, eine faire Streitkultur, die Bereitschaft zur Vergebung, die Liebe und das Gebet. Zu verstehen, zu akzeptieren, dass nicht alles "heil" ist, ist dabei auch eine geistliche Herausforderung. Hierfür ist ein Blickwinkel vonnöten, der Norbert Kiesel besonders wichtig war. "Denkt dran, wir sind nicht immer nur die Guten, die alles richtig machen und die Wahrheit gepachtet haben. Das gelingt uns leider nur manchmal."

Norbert Kiesel ist 1998 gestorben. Obwohl kein Seligsprechungsverfahren für ihn läuft, gehört er für mich zu den beeindruckendsten geistlichen Menschen, die ich in unserer Kirche erleben durfte.

Guido Erbrich, Bautzen

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