Lebenswege verfolgen
Biografie-Projekt der Caritas soll Neustädter Frauen, die in Osteuropa aufwuchsen, neue Kraft geben
Neustadt/Sachsen. "Lebens- Wege" ist ein neues Projekt der Caritas in der Sächsischen Schweiz überschrieben. Deutsche Frauen, die in Russland, Kasachstan oder Kirgisien aufgewachsen sind, beschäftigen sich mit ihrer Biografie, um daraus neue Kräfte und Ideen für ihr weiteres Leben in Deutschland zu schöpfen.
"Eine deutsche Schwiegertochter kommt mir nicht ins Haus - Deutsche? - das sind doch Faschisten!", bekam sie in Kasachstan zu hören. Und hier in Deutschland: "Arbeit suchen Sie? Was bilden Sie sich ein! Wenn‘s hier welche zu verteilen gibt, dann sind ja wohl erst mal wir Deutschen dran!" Ähnliches haben die meisten erlebt, die seit März jeden zweiten Mittwoch in der Neustädter Caritas-Beratungsstelle zusammenkommen.
"In Kasachstan waren wir die Deutschen, hier sind wir die Russen. Wir wissen nicht, wo unser Zuhause ist", sagt Elena Zuravler. Natürlich habe das Leben zwischen den Kulturen auch Vorteile, die Zweisprachigkeit beispielsweise möchte die 41-Jährige auch an ihre Kinder weitergeben, die beide in Deutschland geboren sind. Doch auch damit ist sie in Neustadt schon angeeckt. Erst kürzlich herrschte eine fremde Passantin sie an, als sie mit einer Bekannten auf Russisch unterhielt: "Reden Sie gefälligst Deutsch! Sie sind hier jetzt in Deutschland!" "Würden Sie ebenso reagieren, wenn ich Englisch oder Schwedisch gesprochen hätte?", gab sie selbstbewusst zurück.
Elena Zuravlers größter Traum ist es, wieder Arbeit zu finden. "Die Ausbildung, die ich in Kasachstan gemacht habe, wird hier nicht anerkannt", bedauert sie. Wollte sie in ihrem gelernten Beruf arbeiten, müsste sie noch einmal eine komplette Ausbildung absolvieren - auf eigene Kosten. Wovon sie das bezahlen sollte, weiß sie nicht. Deswegen nimmt sie die Angebote des Arbeitsamtes, an Fortbildungsmaßnahmen teilzunehmen, gerne an. Sechs Zertifikate hat sie in den dreizehn Jahren gesammelt, die sie nun schon in Neustadt ist - zu einer Arbeitsstelle hat ihr keines verholfen.
"Zu Hause rumsitzen zu müssen, wäre für mich das Schrecklichste", sagt Ludmila Letuta (58). 30 Jahre lang habe sie als Bibliothekarin in einer Schule gearbeitet, heute sei sie "hochqualifizierte Putzfrau", erzählt sie mit einem Schmunzeln. Für sich selbst habe sie keine Zukunftsträume mehr, wohl aber für ihre Kinder.
Die berufliche Weiterentwicklung ist eines der wesentlichen Ziele, die Caritas-Beraterin Silke Maresch bei der Entwicklung des Projektes im Blick hatte. "In vielen Beratungsgesprächen ist mir aufgefallen, dass Migrantinnen es oft nicht gewohnt sind, über ihre biografischen Wurzeln nachzudenken. Wer sich nicht bewusst ist, was er in seinem bisherigen Leben an Kenntnis und Kompetenz erworben hat, dem fällt es häufig auch schwerer, sich über die eigenen Pläne für die Zukunft klar zu werden", hat die Sozialpädagogin beobachtet. Bis Ende des Jahres wird das Projekt weiterlaufen. Auf dem Programm steht unter anderem noch der Besuch einer Mitarbeiterin der Industrie- und Handelskammer. Gegenwärtig arbeiten die Frauen daran, einen Stammbaum zu erstellen und zusammenzutragen, was sie über ihre Vorfahren wissen.
Vom schweren und harten Leben ihrer Großmütter wissen die meisten Frauen zu berichten. Dass ihre eigenen Großeltern keine Schule besuchen konnten und schon früh in der Landwirtschaft mitarbeiten mussten, erzählt Elena Zuravler. Für manche lässt der Blick in die Vergangenheit ihr gegenwärtiges Schicksal in anderem Licht erscheinen: "Auch ich habe keine Arbeit, aber ich brauche mir keine Sorgen machen ", findet Maria Sarajew (55). Sie sei abgesichert, werde im Krankheitsfall medizinisch versorgt und sei "einfach nur dankbar - der Regierung und vor allem Gott, den ich hier in Deutschland gefunden habe."
Während einige Frauen darauf hoffen, eines Tages in Westdeutschland eine Arbeit zu finden, ziehen andere auch ehrenamtliches Engagement in Neustadt bei ihrer Zukunftsplanung mit in Betracht. Tatjana Tschernigin(43) ermutigt dazu. Sie selbst kam als Unterstufenlehrerin 2003 aus Kasachstan. Ihre Ausbildung wird in Deutschland nicht anerkannt. Ein neuerliches Studium kann sie sich finanziell nicht leisten, weil sie für zwei Kinder in der Ausbildung zu sorgen hat. Seit 2005 arbeitet sie in der Caritas-Migrationsberatung mit, vorwiegend ehrenamtlich, in einzelnen Projekten wie dem aktuellen Biografie-Projekt aber auch mit Anstellung. "Das Wichtigste ist es, nicht zu Hause sitzen zu müssen und sich nutzlos zu fühlen", findet sie.
Von Dorothee Wanzek