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Anstoß

Windhauch und Luftgespinst

Marko Dutzschke

Jérome Kerviel hat 4,9 Milliarden Euro der Société Général verspekuliert. Ich sehe mich immer noch ungläubig vor dem Zeitungsartikel sitzen und staunen. Die Berliner Zeitung nennt diesen Mann den größten Zocker aller Zeiten. Jetzt muss er sich vor Gericht für sein fahrlässiges Verhalten verantworten. Zumindest gibt er zu, sich "idiotisch" verhalten zu haben. Trotzdem will der französische Finanzhändler keine Verantwortung übernehmen. Und wenn es ihm tatsächlich gelingt, sich als kleines Rädchen im Getriebe der großen Finanzbranche zu verkaufen, stehen die Chancen dafür gar nicht so schlecht. Mit jedem Wort wächst meine Empörung über Jérome Kerviel. Ich hoffe, dass er mit seiner Argumentation nicht durchkommt. Er soll für die Folgen seiner Geschäfte persönlich geradestehen. In einem Punkt gebe ich ihm allerdings Recht. Er steht für ein aus den Fugen geratenes Finanzsystem. Vor der Frankfurter Wertpapierbörse stehen ein Bär und ein Stier. Die Bronzeskulpturen symbolisieren das Auf und Ab im Geschäft mit den Geschäften. Die Tiere erinnern jeden Händler täglich daran, worauf es ankommt: Stärke, Wohlstand und grenzenloses Wachstum. Ich habe einen Vorschlag: Man sollte die Skulpturen vor der Frankfurter Börse durch eine Plastik von Ernst Barlach austauschen. Ich meine die russische Bettlerin, die mit ihrer Hand eine leere Schale formt. Dann würde jeder Händler wirklich täglich daran erinnert, worauf es in Wahrheit ankommt: In jedem Geschäft geht es um das Wohl der Menschen. Es kommt nicht darauf an, allen die Taschen zu füllen, sondern für das Notwendige zu sorgen, was Menschen zum Leben brauchen.

Es kommt mir wie eine Fügung vor, wenn ich dazu im Buch Kohelet lese: Besser eine Handvoll und Ruhe, als beide Hände voll und Arbeit und Luftgespinst (Kohelet 4,6). Was der Prediger vor weit über 2000 Jahren geschrieben hat, scheint mir in der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise hochaktuell und brisant zu sein. Kohelet nennt es Windhauch und Luftgespinst, mit beiden Händen Geld zu scheffeln. Und erleben wir nicht gerade, wie sich Milliarden in Luft aufl ösen, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat? Obwohl wir längst alle Hände voll haben, treibt uns immer noch die Angst, eines Tages leer auszugehen. Wir suchen nach Sicherheiten, an die man sich halten kann.

Doch die vollen Hände sorgen nicht für mehr Sicherheit und Ruhe. Mit wie viel Angst und Sorgen blicken wir in die Zukunft. Was wir brauchen, sind nicht die vollen Hände. Kohelet hat ganz Recht: Lieber eine Handvoll und Ruhe, alles Übrige ist Windhauch und Luftgespinst.

Kaplan Marko Dutzschke, Cottbus

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