Wenn alte Menschen süchtig sind
"Experten für das Leben" - die andere Seite der Caritas-Kampagne
Magdeburg (tdh). Die Caritas möchte mit ihrer Kampagne "Experten fürs Leben" auf den Erfahrungsschatz älterer Menschen hinweisen, den diese an die jüngere Generation weitergeben können. Was aber, wenn sich keiner dafür interessiert?
Mit der Kampagne "Experten fürs Leben" rückt die Caritas die Lebenserfahrung älterer Menschen in den Blickpunkt. Zugleich will sie auch zur Solidarität zwischen den Generationen aufgerufen: Jüngere Menschen sollen aus dem Erfahrungsreichtum älterer Generationen Kraft und Hoffnung für ihr Leben schöpfen können. Ältere Menschen brauchen wiederum die Zuneigung und Aufmerksamkeit der jüngeren Generation und sind auf diese angewiesen.
"Die Kampagne der Caritas greift ein wichtiges Thema auf. Alte Menschen werden im täglichen Leben oft von Einsamkeit, Krankheit und Desinteresse der Mitmenschen begleitet. Sie besitzen zwar kostbare Ressourcen, finden oft aber keinen, der daran Interesse hat", berichtet Jan Kiehl, für Suchtfragen zuständiger Referent beim Caritasverband für das Bistum Magdeburg. So fühlen sich viele alte Menschen ohne ihre bisherige Lebensaufgabe nutzlos. "Sie resignieren oder suchen nach Erleichterung und Auswegen. Manche finden Entspannung im Alkohol, Medikamentenkonsum oder im Glücksspiel. Desinteresse, gesundheitliche Probleme, Tod eines nahestehenden Menschen und verstärkter Suchtmittelkonsum führen nicht selten zu Vereinsamung und Abhängigkeit."
Suchtprobleme bleiben lange verborgen
Sucht im Alter wird von der Öffentlichkeit spät oder gar nicht wahrgenommen. Jan Kiehl: "Diese Probleme bleiben bei älteren Menschen lange Zeit im Verborgenen bestehen oder werden einfach stillschweigend hingenommen." Alkohol und Medikamente können bei älteren Menschen Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen, Kurzatmigkeit, Konzentrationsschwäche und Gewichtsstörungen hervorrufen. Diese Beeinträchtigungen werden oft dem Alter zugeschrieben. Und damit werde das eigentliche Suchtproblem verharmlost.
Aus Erfahrung weiß Jan Kiehl, der Anteil der über 65-jährigen Patienten in ambulanten und stationären Suchteinrichtungen ist sehr gering. Ältere Menschen mit Sucht-erkrankungen werden auch in den ambulanten und stationären Einrichtungen selten als Suchtabhängige behandelt oder versorgt. "Eine angemessene Behandlung der Sucht ist aber auch bei älteren Menschen sinnvoll und erstrebenswert." Auch in den Arztpraxen und den Allgemeinkrankenhäusern müssten seiner Ansicht nach verstärkt entsprechende Maßnahmen angesetzt werden. "In vielen Studien wird nachgewiesen, dass die Behandlung von Suchtproblemen im hohen Alter erfolgreich sein kann."
Ein Drittel der suchtkranken Menschen erkrankt erst nach dem 65. Lebensjahr. Für sie besteht das Suchtrisiko vor allem in der Kombination von Alkohol und Medikamenten. Fachleute schätzen dabei Medikamentenabhängigkeit ähnlich hoch ein wie Alkoholabhängigkeit. Ältere Menschen vertragen weniger Alkohol, benötigen aber wesentlich mehr Medikamente.
"Viele Betroffene sind sich ihrer Medikamentenabhängigkeit nicht bewusst, denn eine klare Abgrenzung zwischen Gebrauch und Missbrauch ist schwierig", sagt Jan Kiehl. "Falsche ärztliche Versorgung, unsachgemäße Anwendung oder Selbstmedikation können vor allem bei Schlafund Beruhigungsmitteln aus der Gruppe der Benzodiazepine zur Abhängigkeit führen. Diese Medikamente erzeugen bei langfristiger Einnahme schwere Folgewirkungen." Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) geht davon aus, dass drei Viertel aller Medikamentenabhängigen Benzodiazepine einnimmt. Je länger die Einnahme erfolgt, desto sicherer kommt es zu einer schleichenden Vergiftung. "Die Folgen sind psychotische und depressive Zustandsbilder oder das Auftreten demenzähnlicher Erscheinungsbilder." Außerdem erhöhe die Abhängigkeit von Benzodiazepinen das Sturzrisiko älterer Menschen, denn die Einnahme psychoaktiver Medikamente löst Schwindel aus. Stürze zählen dabei zu den wichtigsten geriatrischen Problemen und haben für ältere Menschen gravierende Folgen. Die DHS geht davon aus, dass ein Drittel aller über 65-Jährigen mindestens einmal im Jahr stürzt. In den Altenpflegeheimen wird von einer noch höheren Sturzhäufigkeit ausgegangen.
Pfarrgemeinden können Betroffenen helfen
Jan Kiehl: "Auch für ältere suchtkranke Menschen gilt die Kampagne der Caritas. Sie sind mit ihren Erfahrungen ,Experten fürs Leben‘ und können diese zum Beispiel in den Pfarrgemeinden weitergeben oder dort aktiv werden. Unsere Kirche und die Pfarrgemeinden ihrerseits können älteren suchtkranken Menschen wiederum Halt, Orientierung und Sinn im Leben geben." Wenn die Betroffenen das Bedürfnis nach religiöser Erfahrung und gelebter Gemeinschaft haben, müssten die Pfarrgemeinden ihnen entsprechende Angebote machen. "Es gilt hier, nicht wegzuschauen!" Pfarrgemeinden haben nach der Erfahrung von Jan Kiehl die Möglichkeit, Suchtkranken zu helfen. "Ein offenes Gespräch, Abstinenzmöglichkeit und ein ehrlicher Umgang miteinander können vielleicht manchen Suchtmittelmissbrauch verhindern oder gar nicht entstehen lassen. Suchtkranke Menschen dürfen in unseren Pfarrgemeinden nicht sich selbst überlassen werden, vielmehr muss ihnen ein Gefühl der Geborgenheit, Aufmerksamkeit und der Wertschätzung vermittelt werden.