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Bei den Leidenden ausharren

Notfallseelsorge hat sich in Chemnitz nach anfänglicher Durststrecke fest etabliert

Chemnitz (dw). "Unser langer Atem hat sich ausgezahlt. Heute sind wir in Chemnitz als wichtiges Glied in der Kette der Hilfsangebote anerkannt", sagt Schwester Bernadette Böhm, die vor 14 Jahren die Chemnitzer Notfallseelsorge ins Leben rief.

Nach 14 Jahren Notfallseelsorge in Chemnitz wurde Schwester Bernadette jetzt verabschiedet. Dazu hatten sich die Rettungskräfte der Stadt etwas Besonderes einfallen lassen: Mit einer Feuerwehrleiter wurde die Schwester auf den Kirchturm hochgefahren, wo ihr Abschiedsgeschenk versteckt war.

"Einen Dienst, der rund um die Uhr erreichbar ist, wenn Menschen in großer Not sind, professionelle Helfer aber keine Zeit für sie haben - so etwas brauchen wir hier in Chemnitz auch", war der Ordensfrau klar geworden, als sie vor Jahren in einer Zeitung über Notfallseelsorge und Krisenintervention las. Mit dem Zeitungsartikel in der Hand ging sie kurz entschlossen zum Chemnitzer Polizeichef. Der sah großen Bedarf, war aber zugleich äußerst skeptisch: "Sie glauben doch nicht, dass Sie hier Leute finden, die freiwillig eine solche Aufgabe übernehmen?"

Sein Zweifel war für Schwester Bernadette eher Ansporn als Abschreckung. Nach dem Sonntagsgottesdienst in der Chemnitzer Propstei verteilte sie Kopien des Zeitungsartikels und fand so die ersten Mitstreiter für die Chemnitzer Notfallseelsorge.

"Manchmal bleibt einem das Wort im Hals stecken"

Anfangs spürten die Notfallseelsorger Vorbehalte unter den Rettungskräften. Ausgesprochen wurden diese zumeist aber erst dann, wenn die professionellen Helfer umgestimmt waren: "Anfangs dachten wir ja, das wäre eine Missionierungskampagne durch die Hintertür", hörte Bernadette Böhm beispielsweise von einem Polizisten. "So ein Psychozeug brauchen wir nicht", sagte ein anderer. Ein Notarzt sagte über seine Zunft: "Wir sind Handwerker. Viele von uns sehen nur die körperlichen Funktionen des Patienten. Die Ehefrau, die weinend in der Ecke sitzt, geht uns nichts an."

17 Ehrenamtliche aus unterschiedlichen Berufen - von der Sparkassenangestellten bis zum evangelischen Pfarrer - gehören heute zum Chemnitzer Notfallseelsorgeteam, das seit 2002 in Trägerschaft des Caritasverbands arbeitet. Für Menschen, denen ein Angehöriger unerwartet gestorben ist, da sein, Ruhe ausstrahlen, sich Zeit nehmen - das ist bei ihren Einsätzen zumeist wichtiger als große Reden. "Manchmal bleibt einem das Wort im Hals stecken", erzählt Schwester Bernadette. "Wie soll ich eine Mutter trösten, deren Baby gerade an plötzlichem Kindstod gestorben ist?" Dies erwarteten die Betroffenen in der Regel auch gar nicht. "Ich weiß jetzt auch nichts zu sagen, aber ich bleibe bei Ihnen", sagt die Schwester manchmal und erlebt, wie Menschen dies dankbar annehmen.

Eine große Hilfe sei es für viele, beim Umgang mit ihren frisch verstorbenen Angehörigen an die Hand genommen zu werden. Vor dieser Situation möchte mancher am liebsten davonlaufen, erlebt die Schwester. Sie ermutigt beispielsweise dazu, sich mit einem kleinen Ritual von dem Familienmitglied zu verabschieden, ihm auch noch einmal Dank zu sagen.

Von den Kriseninterventionsteams in anderen sächsischen Landkreisen, die unter dem Dach nichtkirchlicher Träger wie Feuerwehr, Technisches Hilfswerk oder Rettungszweckverband stehen, unterscheidet sich die praktische Arbeit des Caritas-Teams kaum. "Wir haben einen anderen Hintergrund, wir können Menschen, für die wir konkret nichts weiter tun können, in unser Gebet nehmen, und wenn wir in seltenen Fällen auf Christen stoßen, die in ihrer Not mit uns beten möchten, sind wir darauf vorbereitet", sagt Schwester Bernadette. Bedingung für das Engagement in der Notfallseelsorge sei der praktizierte christliche Glaube aber nicht.

Die Gruppe hilft, Erlebtes zu verarbeiten

Erst kürzlich hätten sich zwei junge Rettungssanitäter zur Mitarbeit gemeldet, die keine Christen seien. Dem stand nichts im Wege, da sie einverstanden waren, die christliche Grundausrichtung mitzutragen und auch mit der feierlichen kirchlichen Beauftragung zu Beginn ihrer Dienstzeit keine Schwierigkeiten hatten.

Wenn die Leiterin der Chemnitzer Notfallseelsorge nach einem Vorstellungsgespräch keine Einwände hat, nehmen Interessenten drei Wochenenden lang an einer Ausbildung beim Fachverband für Notfallseelsorge und Krisenintervention in Mitteldeutschland teil. Wichtig sei dann die Vernetzung im Team. Alle zwei Monate trifft sich die komplette Gruppe, einmal im Quartal findet Supervision statt, darüber hinaus besteht jederzeit die Gelegenheit, mit anderen Mitgliedern der Gruppe über Erlebtes zu sprechen. In der Regel übernimmt jeder monatlich zwei 24-Stunden-Bereitschaftsdienste.

Zum Monatsende geht Schwester Bernadette Böhm in den Ruhestand und übergibt die Leitung der Notfallseelsorge an die Chemnitzer Ehe-, Familien- und Lebensberaterin Monika Seidel. Vor ihrem Eintritt in den Ruhestand wünschte sich Schwester Bernadette, dass der Notfallseelsorge die motivierten Helfer nie ausgehen.

Die Haltung, mit der die Seelsorger ans Werk gehen, sollte sich in der gesamten Bevölkerung wieder mehr ausbreiten, hofft sie. "Zu häufig erleben wir, dass die Nachbarn flüchten, wenn der Notarzt kommt", bedauert sie. Erst kürzlich habe ihr eine Frau erzählt, das Schlimmste nach dem Tod ihres Mannes sei gewesen, dass Bekannte ihr aus dem Weg gingen und bei ihrem Anblick die Straßenseite wechselten.

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