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Die Not der Nachbarn sehen

Wie Gemeinden und Caritas wieder zusammenwachsen können - Tag des Herrn und der Caritasverband für das Bistum Dresden-Meißen veranstalteten Werkstatttag

Leipzig. Kirchengemeinden sollten die Sorge um Menschen in Not hierzulande nicht allein der Caritas zuschieben. Verantwortlichen für Seelsorge und Caritas wird das immer bewusster. Ein Werkstatttag in Leipzig befasste sich mit der Frage, wie auf diesem Feld "wieder zusammenwächst, was zusammengehört".

Nicht nur in der Kirche wird darüber geredet, das Ehrenamt zu stärken und die Selbstverantwortung der Bürger für soziale Belange zu erweitern. Dass uns die Sozialausgaben aus dem Ruder laufen, ist nicht der einzige Anlass, bisherige Entwicklungen infrage zu stellen.

In den Gemeinden wächst die Erkenntnis, dass man sich mit einer zu weit getriebenen Professionalisierung der konkreten Nächstenliebe ins eigene Fleisch geschnitten hat: Kirche entspricht nicht mehr ihrem Auftrag durch Jesus Christus, wenn sie sich auf Liturgie und Verkündigung beschränkt. Wenn Christen beispielsweise nicht mehr in der Lage sind, die Nöte der Menschen in ihrem Lebensumfeld wahrzunehmen, verlieren sie an Strahlkraft und Glaubwürdigkeit.

Wie kann es gelingen, dass Seelsorger, Caritasmitarbeiter und Ehrenamtliche aus den Gemeinden die Sorgen und Nöte ihrer Mitmenschen gemeinsam in den Blick nehmen? Ist es möglich, dass ihre unterschiedliche Herangehensweise bei der Suche nach Lösungen nicht zu unversöhnlicher Konkurrenz führt, sondern sogar bereichernd wirkt? Diesen Fragen widmete sich Professor Udo Schmälzle, emeritierter Pastoraltheologe der Universität Münster, am 28. Januar in seinem Hauptreferat zu einem Werkstatttag im Leipziger Agneshaus. Mehr als dreißig Repräsentanten aus Seelsorge und Caritas im Tag des Herrn- Verbreitungsgebiet, darunter die Bischöfe der Diözesen Görlitz, Erfurt und Dresden-Meißen und alle Caritasdirektoren, waren dazu der Einladung der katholischen Wochenzeitung Tag des Herrn und des Dresden-Meißner Diözesancaritasverband gefolgt.

Professor Schmälzle stellte ihnen die Ergebnisse seines soeben fertiggestellten Forschungsprojekts "Diakonie im Lebensraum der Menschen" vor. Deutschlandweit hat er dafür mehr als drei Jahre lang 22 Projekte untersucht, in denen sich Gemeinden und Caritasmitarbeiter gemeinsam mit Menschen, die Probleme haben, für die Verbesserung der sozialen Situation in deren Lebensraum engagieren.

Die untersuchten Projekte sind so unterschiedlich wie die Notlagen, die ihre Initiatoren motivierten: Kinder, die morgens hungrig in die Schule gehen müssen, Alte und Kranke, die nicht mehr aus ihrer Wohnung herauskommen, Jugendliche, die keine Arbeit finden, Migranten, die in einem heruntergekommenen Wohnviertel zusammengepfercht werden...

Ziel der Projekte war es, Probleme nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu lösen, sondern gemeinsam mit ihnen - ein Ansinnen, das sich in der Praxis oft als schwierig erwies. Hilfreich war es Schmälzle zufolge, wenn die Helfer aus Gemeinden und Caritas dem Lebensraum der Betroffenen möglichst nahe waren. Selbst dann sei es aber zumeist ein langer Weg gewesen, sich ihr Vertrauen zu erwerben und sie zur Eigeninitiative zu bewegen. Dass einer von ihnen selbst die Leitung eines Projektes übernommen habe, sei nur in einem einzigen Fall gelungen.

Das Miteinander von Hauptund Ehrenamtlichen von Pastoral- und Caritasmitarbeitern war dann fruchtbringend, wenn alle Beteiligten bereit gewesen seien, sich darauf einzulassen - "dazu muss in allen Lagern Tacheles geredet werden" - und die unterschiedliche Logik des anderen zuzulassen. Das Potenzial, das Gemeinden dann etwa einzubringen hätten, liege insbesondere darin, die Ohnmacht zu bewältigen, die Menschen in Notlagen auszuhalten hätten. Nicht für jedes Leid gebe es keine Lösung. "Wer voll im Dreck sitzt, erwartet aber gar nicht so sehr, dass man all seine Probleme löst", beschrieb Udo Schmälzle als eine Erkenntnis aus dem Forschungsprojekt. "Er erwartet vor allem, dass man seine Notlage wahrnimmt und sich an seine Seite stellt." So habe eine alte Frau, die im Rahmen der Studie befragt wurde, gesagt: "Seit ich nicht mehr zur Kirche kommen kann, sieht mich keiner mehr." Empfehlenswert seien kleine Schritte der Veränderung, die den Betroffenen ein Erfolgserlebnis vermittelten. Als Beispiel für einen solchen ersten kleinen Schritt nannte er die Blumenkübelpflanzaktion in einem trostlosen Wohngebiet.
Viele katholische Gemeinden orientierten sich bisher fast ausschließlich am Mittelstand. Wie wichtig es sei, Berührungsängste mit Menschen aus anderen gesellschaftlichen Schichten ernst zu nehmen, sei eine weitere Erkenntnis der Projektarbeit. Wenn Gemeindemitglieder ihre Ängste und Überforderungen zugeben, sei es am besten möglich, daran anzuknüpfen und ihnen - beispielsweise über Fortbildungen der Caritas - notwendige Kompetenz zu vermitteln.

Caritas und Gemeinden hätten durch gelungene Projekte viel gesellschaftliche Anerkennung gewonnen, legte der Münsteraner Pastoraltheologe dar. Gemeinden würden lebendiger und entdeckten in den eigenen Reihen unvermutete Potenziale. Die Erwartung, dass sich der Erfolg umgehend in Gottesdienstbesucherzahlen niederschlägt, habe sich allerdings nirgends erfüllt. Vielen Projektbeteiligten sei bewusst geworden, wie wichtig es sei, dass Kirche im Lebensraum der Menschen erfahrbar bleibe.

Die Leipziger Veranstaltung stand im Vorfeld der zweiten "Pastorale! Messe für Pastoral in der Diaspora", die im kommenden Oktober im Bischof-Benno-Haus Schmochtitz geplant ist. Die erste Pastorale! hatte mit 1200 Teilnehmern 2006 stattgefunden. Das Miteinander von Pastoral und Diakonie soll bei dem diesjährigen Erfahrungs- und Ideenaustausch ein Themenschwerpunkt sein.

Die "Pastorale! Messe für Pastoral in der Diaspora" findet vom 15. bis 18. Oktober in Schmochtitz statt.
Von Dorothee Wanzek

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