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"Totgesagte leben länger"

Säkularisierung wird Religiosität nicht beseitigen

Magdeburg. Die mehrere Jahrhunderte alte Säkularisierungstheorie ist ins Wanken geraten und muss umgeschrieben werden: Religiosität werde nicht verdrängt sondern verändere sich, meint Martin Knechtges, Philosoph der Katholischen Akademie Berlin.
In der modernen Gesellschaft, der Gesellschaft der Zukunft, wird die Religion überfl üssig sein. Diese Säkularisierungsthese ist seit der Aufklärung latent, war besonders dort verbreitet, wo sich die Soziologie entwickelte und wurde beispielsweise im Sozialismus zu bestätigen versucht. Im Rahmen des Forum Norbertinum der Katholischen Akademie des Bistums Magdeburg sprach der Philosoph Martin Knechtges im Magdeburger Roncalli-Haus über jüngste Korrekturen der Säkularisierungstheorie: "Totgesagte leben länger. Warum weder die Religion noch die Säkularisierung am Ende sind." Dabei meint Säkularisierung oder Verweltlichung hier nicht den Übergang von kirchlichen in weltlichen / staatlichen Besitz, sondern die Veränderung von Gedanken, Begriffen und Vorstellungen aus einem religiösen in einen allgemeinen Kontext.

Seit den 1960er Jahren mehren sich unter den Soziologen die Zweifel an der Säkularisierungstheorie. Sie sei zu stark auf das Christentum und die Kirchlichkeit fokussiert. Kritiker wie Peter L. Berger oder Thomas Luckmann folgen der Idee, dass zwar die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt, die Menschen aber weiterhin einer natürlichen Theologie anhängen. Denn sinkende Mitgliederzahlen der Kirchen müssten nicht zwangsläufi g eine religiöse Abkehr der Menschen bedeuten, sagte Martin Knechtges. Die Wissenschaftler müssten ihren Blick einfach stärker darauf richten, wo wirklich der Glaube verloren geht oder lediglich die Mitgliedschaft in einer Kirche.

Der spanische Religionssoziologe Jose Casanova hatte darüberhinaus festgestellt, dass "die Parallelität von Modernisierung und Säkularisierung zu grob gefasst ist", so Martin Knechtges. Individualisierung und Politisierung seien zwar Zeichen der Modernisierung, fänden aber auch im Religiösen statt, was Knechtges am Beispiel der Diskussion um die Ansichten der Pius-Bruderschaft oder an der Zunahme des religiösen Einfl usses auf die Politik verdeutlichte.

Die Säkularisierungstheorie auf den Kopf stellt der amerikanische Soziologe Peter L. Berger. Er vertritt die These der Desäkularisierung, da die Zahl der Gläubigen weltweit zunehme. Lediglich unter den Geisteswissenschaftlern habe es eine Säkularisierung gegeben, "und die hat wirklich massiv stattgefunden", versuchte Knechtges zu erklären, warum die Soziologen von der Säkularisierungstheorie so überzeugt waren.

Als abschließendes Beispiel der notwendigen Korrektur der Säkularisierungstheorie führte Knechtges den deutschen Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas an. Er hatte anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2001 von einem postsäkularen Zeitalter gesprochen, in dem die Gesellschaft die Religion anders einbinden müsse. Gläubige müssten sich besser verständlich machen und die religiöse Sprache müsse für Nichtgläubige übersetzt werden. Auf diesem Weg seien dann Allianzen beispielsweise in politischen Fragen wie bei den Themen Bioethik oder Stammzellen über Glaubensgrenzen hinweg möglich.

Allerdings stehe die moderne Religiosität und ihre Vertreter vor der Herausforderung, sich nicht in die Schublade der nur ethischen Kompetenz stecken zu lassen, sagte Knechtges. Religiosität habe mehr Facetten und die gelte es nach außen hin auch zu zeigen.

Von Uwe Naumann

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