Liebe macht schlau
Institut für religiöse Werteerziehung: Ein Hirnforscher leistet Geburtshilfe
Leipzig. Die Schulen des Bistums sollen sich weiterentwickeln und Impulse geben, die über das eigene Wirkungsfeld hinausstrahlen. Dieses Anliegen steht hinter Bischof Joachim Reinelts Gründungsinitiative eines Instituts für religiöse Werteerziehung. Ein erster Schritt war jetzt der Vortrag eines Hirnforschers.
"Was versetzt Menschen in die Lage, über sich selbst hinauszuwachsen?", lautete eine der Fragen, die sich der Neurobiologe Gerald Hüther (Göttingen) während seines Vortrags vor Lehrern und Eltern des Bischöflichen Montessori- Schulzentrums Leipzig stellte. Seine Antworten waren verblüffend - besonders für jene, die ihr pädagogisches Handeln auf dem Wertefundament des Evangeliums zu verankern suchen: Die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung bestätigen vieles, was sie bereits leben.
Der Mensch kann die Potentiale seines Gehirns nur aus der Beziehung zu anderen heraus ausschöpfen, lautete eine dieser Erkenntnisse. Wichtig dafür sei es, sich zugleich verbunden und freigelassen zu erleben. Dies anderen Menschen zu ermöglichen, sei eine "reife Form von Liebe", befand Gerald Hüther. Förderlich für das Ausschöpfen des eigenen Hirnpotentials sei es zudem, Vertrauen entgegengebracht zu bekommen, das eigene Tun als sinnvoll zu empfinden und sich in dieser Welt gehalten und getragen zu wissen.
Allzu selten träfen Kinder und Jugendliche solche fördernden Entwicklungsbedingungen tatsächlich an, stellte der Hirnforscher fest. "Unsere Gesellschaft hat sich verrannt." In dem von der Wettbewerbsgesellschaft favorisierten "Ressourcenausnutzungsmodus" würden die Gehirne immer weniger benutzt. Es geschehe keine Potentialentfaltung mehr. Der Übergang zu einer "Kultur gegenseitiger Ermutigung und Inspiration" ist in seinen Augen überfällig. Noch mehr Unterrichtsstoff, möglichst schon im Kindergarten, und noch mehr Leistungskontrollen seien Konsequenzen, die man in Deutschland vor einigen Jahren aus dem schlechten Abschneiden bei der Pisa-Studie gezogen habe. Der mäßige Erfolg ist für den Neurobiologen nicht verwunderlich. Nur was der Mensch mit Begeisterung anpacke und was ihm bedeutsam sei, führe auch nachweislich zu einer Veränderung der Gehirnstrukturen.
Es sei für Menschen bis ins hohe Alter möglich, sich weiterzuentwickeln und Neues zu lernen, machte Hüther deutlich. Voraussetzung sei allerdings, dass sie sich dafür begeistern könnten. Begeisterungsfähigkeit brauche Pflege. "Vielleicht bringen wir uns um mit dem bequemen Leben, das wir uns gegenseitig immer wünschen."
Damit Menschen sich miteinander und aneinander begeistern könnten, sei es erforderlich, Unterschiedlichkeit als Bereicherung zu entdecken. Diese Einstellung sei in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern unterentwickelt. Das Problem in den Schulen hierzulande sei häufig, dass etwa die Mathelehrer mit ihrer Begeisterung für Mathematik nur die wenigen Schüler erreichen, die den Zauber der Mathematik ohnehin schon entdeckt hätten. Förderlicher wäre es hingegen, begeistert zu sein von der Beziehung zu denen, die gar kein Mathe mögen. "Lehrer müssten dazu in der Lage sein, die einzuladen, die sie nicht leiden können und die sie für unbegabt halten." Er empfahl den anwesenden Lehrern, negative Etikettierungen zu vergessen und neu auf ihre Schüler zu schauen.
Die Begrenztheit des Machbaren ist eine weitere Erkenntnis, die der Neurobiologe durch seine wissenschaftlichen Forschungen bestätigt sieht. "Unser Teil ist es, alles so zusammenzufügen, dass etwas werden könnte. Das Gelingen steht nicht in unserer Macht." Diese Wirklichkeit könne man kaum schöner ausdrücken als mit dem christlichen Wort "Gnade".
Von Dorothee Wanzek