Im Stürzen gehalten
Der Bildhauer Werner Nickel und sein Ansatz, Kirchenräume und Bildwerke zu gestalten
Nienburg. Seit bald 50 Jahren ist der Nienburger Bildhauer Werner Nickel mit der Gestaltung von Kirchen, religiösen Bildnissen und anderen Kunstwerken befasst.
"Das, was aus einem herauskommt, ist das, was in einem umgeht", sagt Werner Nickel (75) im Blick auf sein künstlerisches Schaffen. Der Bildhauer hat für viele Kirchen vor allem im östlichen Teil Deutschlands künstlerische Konzepte erarbeitet und oft selbst die Gestaltung von Altar, Ambo, Kreuz oder Tabernakelstele übernommen. "Immer geht es darum, das Wesentliche auf den Punkt zu bringen. Dies gelingt nicht zuletzt durch Weglassen", weiß Nickel, der auch langjähriges Mitglied der Bischöflichen Kunstkommission im Bistum Magdeburg ist.
Kirche als Ort, wo Menschen leben können
"Um einen Punkt ist nichts drum herum", sagt Nickel, "auch nicht Schönheit." Die Bibel jedenfalls vermittele im Blick auf den Gottesknecht ein eindeutiges Bild: "Schönheit war nicht an ihm." Nickel sieht für jeden Christen und sich als Künstler eine "Pflicht", im Blick auf Punkte, die nicht als schön gelten, "gelegen oder ungelegen hinzuweisen". Und: Was seiner Ansicht nach allgemein für die Kirche gilt, versteht er auch als Maßstab für die Kirchengestaltung: "Es kommt darauf an, Kirche zu einem Ort zu machen, wo Menschen leben können. Dabei kann es nötig sein, sich von überlebten Formen und Riten zu trennen."
Der 1935 in Oberschlesien geborene Nickel machte zunächst von Schwanebeck (nahe Halberstadt) aus eine Ausbildung zum Steinmetz und studierte danach auf der Burg Giebichenstein in Halle Bildhauerkunst. 1957 besuchte er den Alt-Sprachenkurs in Halle und studierte im Anschluss bis 1961 in Erfurt Theologie. "Das war für mich eine äußerst gewinnbringende Zeit", sagt er rückblickend. "Ich habe dabei selbstständig zu denken gelernt und erkannt, dass es auch Vorstellungen gibt, von denen man sich gegebenenfalls lösen muss." Anfang der 1960er Jahre kam er dann nach Nienburg. Nickel hat zwei Töchter. Sein adoptierter Sohn ertrank mit neun Jahren.
"Mein allerpersönlichstes Werk ist die Pieta in Brandenburg", sagt der Bildhauer. Sie ist in den 1980er Jahren aus einem Stück Eiche entstanden. "Da war gerade mein Junge ertrunken. Die Gottesmutter mit ihrem toten Sohn auf dem Schoß stand dann lange hier in meinem Hof." Einige Jahre später habe sich sein Studienfreund Pfarrer Richard Rupprecht an ihn gewandt und erzählt, dass er ein Kunstwerk suche, das in die von der Brandenburger katholischen Gemeinde übernommene romanische Kirche St. Nicolai passt, die gerade saniert werde. Rupprecht habe ihm von Euthanasie-Verbrechen und Hinrichtungen in Brandenburg-Görden während der Nazi-Zeit erzählt und dass die Gemeinde und er dafür in der Kirche einen Gedenkort einrichten wollen. So sei er dann an der gesamten Innengestaltung des 800 Jahre alten Gotteshauses beteiligt worden. Und seine Pieta fand den Weg in das Brandenburger Gotteshaus. Eine daneben angebrachte Tafel erinnert an die Opfer aller ungerechten Gewalt.
Leid und Kreuz sind für Nickel zu einem wichtigen Thema geworden: das Leid der Opfer der Terror- Diktaturen und von Naturkatastrophen, aber auch der Tod naher Menschen und damit verbunden das Sterben Jesu Christi am Kreuz. "Leid hat immer eine religiöse Dimension", sagt Nickel. Und: "Mich beschäftigt sehr die Frage: Gott, bist du da gewesen? Doch die Frage ist nur berechtigt, wenn das Bild stimmt, das wir von ihm haben. Ich glaube, dass wir von ihm her kommen, dass er uns viel Freiheit gegeben hat und damit auch verdammt viel Verantwortung. Insofern dürfen wir nicht Gott und den anderen die Verantwortung zuweisen …" Sich kein Bild von Gott zu machen, sagt Nickel, gehe eigentlich nicht. Schon der Glaube an Gott als Vater sei ein Bild. "Er hat uns nach seinem Bild gemacht - das kann heißen: Wir sind ihm ähnlich. Oder es kann heißen: Er knetet uns nach dem Bild, das er sich von uns gemacht hat, und erwartet dabei unser Mittun."
Leid hat immer eine religiöse Dimension
"Es liegt am Alter, sich über das Ende Gedanken zu machen und wie wir in die Nähe zu dem kommen, von dem wir gekommen sind. Wenn in uns etwas unsterblich nach Leben verlangt, muss es bleiben in der Unsterblichkeit. Ich glaube fest daran, dass wir im Tod aufgefangen werden."
Eines der jüngsten Werke Nickels, sein "Stürzender Ikarus", hat in seiner Wohnung Platz gefunden. Ikarus steht für "Größe und Elend des Menschen". Der Ikarus von Werner Nickel weist ab, ballt die Faust und steht so "auch für Schuld". Nickel: "Hat sich Ikarus zu hoch in den Himmel gewagt? Oder hat er für seine Flügel den falschen Kleber benutzt? Der Betrachter soll sich diese Frage selbst stellen. Es ist viel wichtiger, die richtigen Fragen zu stellen, als Antworten zu geben", sagt der Bildhauer und Theologe. "Es kommt immer auf den Standpunkt an, von dem aus etwas gesehen wird. Verschiedene Antworten können richtig sein."
Von Eckhard Pohl