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"Komm morgen in die Pathologie"

Ein Buch berichtet jetzt über die Aktivitäten des Neuen Forums in Görlitz vor 20 Jahren

Görlitz. Die Ereignisse vor 20 Jahren in Görlitz aus der Sicht des Neuen Forums sind Thema eines Buches, das jetzt vorgestellt wurde.

Peter Stosiek (rechts) und Stefan Waldau (Zweiter von rechts) stellen das Buch über das Neue Forum in Görlitz vor.

Ähnliches hatten die Mitarbeiterinnen der Stadtbibliothek bisher kaum erlebt. Am 9. November strömten mehr Menschen in den Veranstaltungssaal, als zunächst Stühle vorhanden waren. Die zwei katholischen Autoren, Prof. Dr. Peter Stosiek und Stefan Waldau, lasen eine Stunde aus den "Tatsachen, Erinnerungen, Meinungen" bewegter Zeit, so der Untertitel eines Buches, das die Ereignisse in Görlitz vor 20 Jahren aus der Sicht des Neuen Forums schildert.

"Zum 20. Jahrestag hatten wir vom ehemaligen Sprecherrat des Neuen Forums die Idee, unsere Erlebnisse von damals aufzuschreiben", sagt Stefan Waldau. Daraus entstand dieses Buch, das herausgebracht wurde gegen das Vergessen. Waldau: "Wenn wir mal auf dem Friedhof sind, weiß keiner mehr etwas davon." Drei Mitstreiter von damals sind schon gestorben: Roland Antkowiak, Axel Nischwitz und Klaus Zenker.

Peter Stosiek zitiert bei der Lesung ein Gedicht, die "Wende- Geschichte(n)" von Steffen Mensching: "Irgendwann, hoffentlich bald, aber später, werden wir die ganze Wahrheit ertragen. Nennen werden wir Helden Helden, Verbrechen Verbrechen, nacheinander werden wir zu Wort uns melden, das Schweigen brechen." Wie recht er damit hatte, zeigte die Diskussion. Der ehemalige DDRPolizeichef von Görlitz meldete sich zu Wort, danach Klaus Keller, ein ehemaliger NVA-Offizier, Ausbilder an der Offizierschule Löbau. "Bei uns war die Elite. Die hätte marschieren können. Für uns, die Masse der Offiziere, war es eine Horrorvision, wenn du morgen den Befehl bekommen hättest, gegen die eigenen Leute vorzugehen." Eine Frau verlässt kopfschüttelnd die Veranstaltung. Sie verpasst die Darstellung der Gedanken, Aktivitäten, Forderungen, die Telegramme nach Berlin zum ZK der SED. Sie verpasst die Überlegungen, dass sich "Offiziere über Befehle, die gegen die Menschlichkeit verstoßen, hinweg gesetzt hätten" bis dazu, dass Thesen des Neuen Forums in der Offizierschule diskutiert wurden. Davon wussten die Mitglieder des Neuen Forums damals nichts. "Mit Zittern und Zagen haben wir uns in der Pathologie getroffen. Da haben wir gedacht, dort sucht uns keiner", sagt Peter Stosiek, der als Pathologe in Görlitz arbeitete.

Stefan Waldau wusste von diesen Treffen zunächst nichts. "Ich habe im Deutschlandfunk von der Gründung des Neuen Forum gehört, habe dann von der Bahnhofspost aus mit Jens Reich und Bärbel Bohley telefoniert. Zu Peter Stosiek habe ich gesagt, wir müssen jetzt etwas machen. Da antwortet er, dann komm morgen in die Pathologie." Misstrauen und Angst waren zwar groß in jenen Tagen, die Stasi allgegenwärtig. Aber, so erinnert sich Stefan Waldau: "Ich dachte damals, wenn ich jetzt nichts mache, dann wird es noch schlimmer."

Hans-Ulrich Lehmann, ein pensionierter Schmiedemeister aus Görlitz gesteht heute etwas ein, was für jene Zeit symptomatisch war: "Ich bin damals bei der ersten Versammlung in der zweiten Reihe geblieben, in die erste habe ich mich nicht getraut. Ich habe gedacht, was haben die für einen Mut. Wenn wir uns etwas einbilden können, dann auf die Leute, die den Mut dazu hatten und die dabei Beruf und Familie aufs Spiel gesetzt haben."

Neues Forum 1989/90 in Görlitz - Tatsachen. Erinnerungen. Meinungen, herausgegeben und verlegt vom ehemaligen Sprecherrat des Neuen Forum Görlitz (ISBN 978-3-00-029183-8), Preis: 2 Euro.

Von Raphael Schmidt


Begegnet

Leben auf festem Fundament


"Unzählige Proteste habe ich geschrieben, gegen die FDJ, den FDGB, die Mauer, die ,Wahlen‘, die ja keine waren …" Der das sagt, ist heute emeritierter Professor, habilitierter Mediziner mit mehreren Facharztabschlüssen, Buchautor, Ombudsmann der Kreisärztekammer und Organist in St. Hedwig in Görlitz.

Ein bewegtes Leben liegt hinter dem 73-Jährigen. Seine Familie musste aus Oberschlesien fliehen, kam nach Jauernick bei Görlitz. Der Vater war dort Landarzt. In Reichenbach machte er Abitur. Keine Pioniere, keine FDJ, keine Jugendweihe - trotzdem Studium der Medizin in Halle. Diese Zeit ist ihm wichtig, denn: "Dort habe ich bei Pfarrer Adolph Brockhoff Kirche kennengelernt, wie sie sein soll, als Familia Dei (Familie Gottes). Hätte ich damals nicht diese Erfahrung gemacht, wäre ich vielleicht schon aus der Kirche ausgetreten."

Peter Stosiek

Ein rauer Wind wehte in den Jahren 1955 bis 1961 um die Nase des wissbegierigen Studenten, der ohne Ideologie am OP-Tisch arbeiten wollte. "In dieser Zeit habe ich den Mut gefunden, aus der Kirchlichkeit heraus gegen den atheistischen Staat zu protestieren." Auf seine Protestbriefe bekam er selten Antworten. Dafür hat er später daraus ein Buch gemacht: " Unbeantwortete Briefe" erschien 1999. 1960 gehörte Peter Stosiek zu den Mitbegründern des Aktionskreises Halle (AKH), einer katholischen Basisgruppe, die sich bis heute kritisch mit Vorgängen in Kirche und Gesellschaft auseinandersetzt. Von seiner Kirche erwartet er Lebendigkeit, "wenn man keine Fragen mehr stellt, ist man tot".

"Schon 1961 gab ich diesem Staat keine Zukunft mehr, weil er auf Fundamenten aufbaut, die nach meiner religiösen Überzeugung nicht tragfähig sind", sagt Peter Stosiek. Hinter dem Berg konnte er seine Meinung nie halten. 1963 wurde er fristlos entlassen. Seine Einstellung brachte ihn zwei Mal ins Gefängnis, jeweils für einige Tage.

1975 kam Peter Stosiek nach Görlitz. Zur Wendezeit engagierte sich der dreifache Familienvater im Neuen Forum. Vom damaligen Bischof Bernhard Huhn wurde er als Abgeordneter der katholischen Kirche an den Runden Tisch für Görlitz geschickt.

Heute ist Peter Stosiek im Ruhestand, der den Namen aber nicht verdient: Vorlesungen in Jerewan, Aufbau mehrerer Labore in Armenien, Klavierbegleitung seiner Frau Mechthild und Vorträge ... Bei allen Veränderungen, eines ist für Peter Stosiek konstant geblieben: der wache, aber auch kritische Blick auf seine Kirche, die er liebt. Denn sie steht für ihn auf dem Fundament, das trägt.

www.peter-stosiek.de

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