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Die DDR war mehr als die Stasi

Bilanz nach 20 Jahren Aufarbeitung der SED-Diktatur / Tagung in Leipzig

Leipzig. Den 20. Jahrestag der Deutschen Einheit haben die Leiter der drei sächsischen Außenstellen der Birthler-Behörde für die Stasi-Unterlagen und die Landeszentrale für politische Bildung zum Anlass genommen, um nach einer Bilanz der Aufarbeitung der SED-Diktatur zu fragen.

Das Interesse an der DDR-Geschichte ist 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ungebrochen. Diese Erfahrung machen die Leiter der drei sächsischen Außenstellen der Birthler- Behörde, die die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR verwaltet, in ihrer täglichen Arbeit. Nach wie vor werden dort Monat für Monat jeweils zwischen 500 und 650 Anträge auf Akteneinsicht gestellt. Ungebrochen ist auch das Interesse an entsprechenden schulischen Projekttagen. Allerdings beobachten Regina Schild, die die Leipziger Außenstelle leitet, und ihre Kollegen in Dresden und Chemnitz eine Verschiebung der Themen: weg von den Dingen, die die ältere Generation interessieren - wie der 17. Juni 1953 und der Mauerbau - hin zu den Fragen, wie die Stasi den Alltag in der DDR geprägt hat. Ein Beispiel dafür ist der Einfluss der Stasi in den Kinder- und Jugendsportschulen in der DDR.

Nachwachsende Generation stellt unbefangene Fragen

"Das Interesse an der DDR lässt nicht nach, aber es werden heute von der nachwachsenden Generation andere, neue, unbefangene Fragen gestellt." Diese Erfahrung macht auch Frank Richter, der Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Zusammen mit den drei Leitern der Außenstellen der Birthler-Behörde in Sachsen hatte er jetzt - im 20. Jahr der deutschen Wiedervereinigung - zu einer Tagung eingeladen, die eine Bilanz der Aufarbeitung der SED-Diktatur ziehen sollte. Eingeladen dazu waren besonders Lehrer und Schüler.

"Wir sind weit vorangekommen." Mit dieser Bilanz von Rainer Eckert, dem Leiter des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig, dürften viele der Teilnehmer der Tagung übereinstimmen. Eckert bezeichnete die Bundesrepublik als das Land, das bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit weltweit am weitesten sei (siehe Hintergrund). Dennoch wiesen nicht nur er, sondern auch andere Redner der Tagung auf zum Teil erhebliche Defizite in der Aufarbeitung der SED-Diktatur hin.

So beklagte der sächsische Landesbeauftragte für die Stasi- Unterlagen, Michael Beleites, eine alleinige Fokussierung auf die Opfer der Stasi. So "beschäftigen wir uns mit der Lebenswirklichkeit von weniger als zwei Prozent der DDR-Bevölkerung". Stattdessen müsse dem DDR-Alltag und den Mechanismen der SED mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Allerdings gibt es auch im Umgang mit den DDR-Opfern Defizite. Die frühere Bürgerrechtlerin Angelika Barbe forderte für sie statt Almosen eine angemessene Entschädigung. "Das Mindeste aber sind Respekt und Achtung ihnen gegenüber." Dass die Täter sich inzwischen vielfach selbst vergeben hätten, sei unerträglich. Weder der Staat noch die Kirchen könnten hier Vergebung gewähren. "Das steht allein den Opfern zu."

Täter auch wieder in die Gesellschaft aufnehmen

Gerade hier aber hält der evangelische Theologe, Gerhard Besier, der für die Linke im Sächsischen Landtag sitzt, einen neuen Abschnitt in der DDR-Aufarbeitung für notwendig: Er forderte einen Diskurs, der dazu führt, dass man die Täter auch wieder in die Gesellschaft aufnimmt. Er erinnerte an die Aufarbeitung der Nazi-Diktatur in der alten Bundesrepublik: "Zehn Jahre nach der Nazi-Zeit waren viele von denen, die einst hoffnungsvolle Nazi-Karrieren vor sich hatten, zu mustergültigen Demokraten geworden."

"Elemente der Befriedung" forderte der Vorsitzende der CDUFraktion im Sächsischen Landtag Steffen Flath. "Wenn ein Lehrer zu seinem ehemaligen Schüler geht und sich bei ihm entschuldigt, dass er seinerzeit den Abi-Aufsatz aus ideologischen Gründen mit einer Drei statt mit der verdienten Eins bewertet hat ... dann ist diese Sache befriedet." Die Frustration der Bevölkerung über manche Defizite in der Aufarbeitung sei der Preis der Friedlichkeit der Revolution. "Wäre die Revolution nicht friedlich gewesen, hätten die Aufgehängten eine gewisse Befriedigung geschaffen." Die, die heute still leiden, zahlten diesen Preis und das seien mitunter dieselben, die schon zu DDR-Zeiten leiden mussten.

Von Matthias Holluba


Hintergrund

Aufarbeitung der SED-Diktatur: Viel erreicht, dennoch ein paar Defizite


"Weltweit ist kein Land in der Aufarbeitung seiner Vergangenheit so weit wie die Bundesrepublik Deutschland." Diese positive Bilanz zieht - 20 Jahre nach dem Ende der DDR - der Leiter des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, Rainer Eckert. Dennoch sieht der Historiker auch eine Reihe von Defiziten. Bei einer Tagung in Leipzig, die eine Bilanz der Aufarbeitung der SED-Diktatur ziehen wollte, sagt er: Ein Manko sei die juristische Aufarbeitung. Auch wenn es erhebliche Erfolge bei der Ahndung schwerer Menschenrechtsverletzungen gegeben habe, sei von den gegen 105 000 Personen eingeleiteten Ermittlungsverfahren nur etwa ein Prozent zur Anklage gekommen. Es habe nur 580 Verurteilungen zu Freiheitsstrafen gegeben und davon nur 46 ohne Bewährung.

Eine falsche Weichenstellung ist für Eckert die Konzentration der wissenschaftlichen Forschung auf das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS). "Dabei wird zu wenig auf die SED als Auftraggeber des MfS geschaut. Schließlich verstand die Stasi sich ja als ,Schild und Schwert der Partei‘." Außerdem gebe es eine zu starke Konzentration auf die IM (Inoffiziellen Mitarbeiter), während über Offiziere und Generäle mit Ausnahme von Erich Mielke kaum geforscht werde. Auch bei der musealen Aufarbeitung in Ausstellungen und Gedenkstätten sei neben den Themen Haft und Grenze die Stasi ein Schwerpunkt. Zu wenig wird das alltägliche Leben in der DDR thematisiert, kritisiert Eckert. Als Ersatz dafür sprießen inzwischen vielerorts DDR-Privatmuseen aus dem Boden, die häufig eher Orte der Ostalgie als der Aufarbeitung der Vergangenheit sind. "Die Freikörperkultur ist nun einmal nicht konstituierend für die DDR-Diktatur." Dass die DDR heute gelegentlich als Sozialstaat verklärt wird, hat für Eckert dagegen nicht unbedingt mit Ostalgie zu tun: "Es gibt heutige Probleme, die die Vergangenheit in einem anderen Licht erscheinen lassen." Wenn ein solches DDR-Bild aber in der Familie weitergegeben wird, ist das für ihn nicht unproblematisch mit Blick auf das DDR-Bild junger Menschen heute: "Geschichte ist immer das, was die Oma erzählt."

Eckert lobte auch Journalisten und Künstler. Sie haben sich in den letzten 20 Jahren "permanent und kritisch" mit der DDR-Geschichte beschäftigt. Ausdrücklich schloss er dabei den Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) und die Leipziger Volkszeitung (LVZ) ein. Filme wie "Nikolaikirche" oder die Fernsehserie "Weißensee" bezeichnete Eckert als gelungen, während der Oscar gekrönten Film "Das Leben der anderen" nicht akzeptabel sei. Der Film enthalte nicht nur zahlreiche Fehler bei der Darstellung der Staatssicherheit, sondern vermittle auch ein falsches Bild über das Leben in der DDR.

In der weiteren Debatte über die DDR-Diktatur sollten sich nach Eckerts Meinung Historiker mit ostdeutschem Hintergrund stärker zu Wort melden. "Das würde auch dem Gefühl der Fremdbestimmung, das viele Ostdeutsche empfinden, entgegenwirken." Mit Blick auf Schlussstrichdebatten und Vergebungsforderungen unterstrich Eckert, dass Vergebung allein den Opfern zustehe. Die Regelungen für Entschädigung und Wiedergutmachung für die Opfer würden von vielen bis heute als unbefriedigend empfunden - auch im Vergleich zum Umgang mit den Opfern der Nazi-Diktatur. Stärker als Opfer des DDR-Unrechts berücksichtigt werden müssten seiner Ansicht nach auch Menschen, die zwar nicht inhaftiert waren, aber unter den Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit gelitten haben. (mh)

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