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Besinnung an der Haltestelle

Gemeinschaft Christlichen Lebens versuchte geistliche Deutung der Friedlichen Revolution

Dresden. Bei ihrem Gemeinschaftstag im Dresdner Exerzitienhaus Hoheneichen hielten etwa 50 Mitglieder der Gemeinschaft Christlichen Lebens (GCL) kürzlich Rückschau auf die Nachwirkungen der friedlichen Revolution von 1989.

Wie Bushaltestellen, die die Fahrt unterbrechen, geben Gedenktage Anlass zum Innehalten. Die Gemeinschaft Christlichen Lebens versammelte sich deshalb zwanzig Jahre nach der Friedlichen Revolution an einer Haltestelle.

Zum Thema "Aufbruch und Veränderung in der Kirche nach 1989" versammelten sich die Teilnehmer an einer symbolischen Haltestelle. Der neue kirchliche Assistent der GCL in Deutschland, Jesuitenpater Thomas Gertler, bewertete die Ereignisse vor zwanzig Jahren als "Erfahrung biblischen Ausmaßes", vor allem für die Christen. Die Friedensgebete in den Kirchen, die den Raum für freie Meinungsäußerung und Proteste öffneten, dürften ebenso wenig vergessen werden wie die Tatsache, dass es vornehmlich Christen waren, die die Gespräche an den Runden Tischen leiteten und später in leitenden Stellungen Verantwortung für das Land übernahmen.

Aus heutiger Perspektive sei erkennbar, dass sich die deutsche Einheit in manchen Bereichen zu schnell vollzog, manches mehr Zeit gebraucht hätte - auch in der Kirche. Ihre persönliche Bilanz zogen die Teilnehmenden anhand zweier Fragen: "Was habe ich durch die deutsche Einheit verloren?" und: "Was habe ich durch die deutsche Einheit geschenkt bekommen?" Diese Besinnung - zunächst in einer stillen Zeit, dann in kleinen Gruppen - empfanden viele als heilsam.

Sie entdeckten dabei, dass Dankbarkeit und Zuversicht einen wesentlich größeren Raum einnehmen als die Trauer um Verlorenes. Sich beides bewusst zu machen - verlorene Sicherheit, verlorene Arbeitsplätze, Wegzug junger Menschen, (scheinbar) weniger Solidarität ... und Reise-, Rede-, Bildungsfreiheit, höherer Lebensstandard, neue Begegnungsmöglichkeiten ... -, offenbare einen großen Schatz, sagten GCL-Mitglieder anschließend.

Verändert hat sich, das machte Pater Gertler in seinem Impuls deutlich, auch die Wahrnehmung der Kirche. Nicht nur, dass beispielsweise in Westdeutschland vor der Wende Kirchenbesucher eher als unkritisch gegenüber Staat und Kirche erlebt wurden, während die Kirchen im Osten Deutschlands den Raum zur freien Meinungsäußerung boten - also zwei unterschiedliche Charaktere von Christen in den Kirchen anzutreffen waren.


Kirche nur noch Dienstleister?

Heutzutage werde der Kirche nicht mehr die Rolle als "Dach" über allen gesellschaftlichen "Säulen" zuerkannt, sondern ihr nur noch ein Gesellschaftsbereich unter vielen zugesprochen, der gerade noch als Dienstleistungsbetrieb wichtig sei. Damit werde die Wirklichkeit Gottes nicht mehr in allen Bereichen wahrgenommen - das "Salz der Erde" scheine schal geworden zu sein.

Bei ihrem Versuch, das Geschehen der vergangenen Jahre geistlich zu deuten, ließen sich die Versammelten vom heiligen Ignatius von Loyola inspirieren, der die "Unterscheidung der Geister" empfahl. "Der Gott des Lebens führt immer in die Freiheit und in die Wahrheit, zu mehr Glauben, Hoffnung und Liebe", nannte Pater Gertler sie dazu als wesentlichen Maßstab.


Anspruch Gottes auf allen Ebenen anmelden

Möglicherweise habe Gott die Menschen durch die Ereignisse der so genannten Wende darauf hinführen wollen, ihm selbst im Alltag wieder mehr Raum zu geben, das Prophetische der gesamten Kirche neu zu entdecken und das Missionarische ihres Wesens lebendiger zu gestalten, kam in den Gesprächen zum Ausdruck.

Wie lassen sich solche Erkenntnisse mit Leben füllen? GCL-Mitglieder schöpfen dazu manche praktische Hilfe aus der Spiritualität des heiligen Ignatius. Beispielsweise empfehlen sie, im Gebet auf die liebevollen Spuren zu achten, die Gott im täglichen Leben des Einzelnen hinterlässt. Für hilfreich halten sie unter anderem auch, das gemeinsame Gebet in der Familie zu pflegen und durch Exerzitien im Alltag in den Gemeinden einzuüben, über den eigenen Glauben zu sprechen und einander zum christlichen Zeugnis zu ermutigen.

Die Kirche hat den Anspruch Gottes auf allen Ebenen der Gesellschaft anzumelden, auch wenn sie dadurch unbequem wird, machte Thomas Gertler deutlich. Sie müsse eine freiheitliche Atmosphäre in ihren eigenen Wänden und gegenüber dem Staat und der Gesellschaft fördern, um für die Wahrheit glaubwürdig Zeugnis zu geben.

Ähnlich wie Jesus im Gespräch mit der Samariterin (Joh 4) müssten Christen Wege zu ihren Mitmenschen zu suchen mit einer Sprache, die sie verstehen, betonte der Jesuitenpater. Sie sollten zur sprudelnden Quelle werden, aus der "Ströme lebendigen Wassers fließen" (vgl. Joh 4,14). Eine große Aufgabe - nicht nur für diejenigen, die sich an der "Haltestelle" trafen.

Von Ursula Weßner

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