Spuren von Hoffnung
Einblicke in das Leben eines Mannes, der Hoffnungslosigkeit durchschritten hat
"Was lässt mich hoffen?", lautet eine Frage, auf die Christen im Advent immer wieder gestoßen werden. Auch Bernd Hänsch hat sich dieser Frage gestellt. Christ ist der Leipziger nicht, und zu den "Hoffnungsträgern" der Gesellschaft hätte ihn vor einigen Jahren wohl auch niemand gezählt …
Sein "Arbeitsplatz" lag vor der Leipziger Nikolaikirche. Dort hat er sich Geld erbettelt für das Wenige, das er zum Leben brauchte: Schnaps, etwas zu rauchen und hin und wieder auch etwas zu essen. "Ich habe fast alles Negative erlebt, was man auf der Straße nur erleben kann", erzählt Bernd Hänsch. "Ich wurde verachtet, verprügelt, angespuckt, angepisst, war von Läusen zerfressen, bin fast erfroren. Einmal hat mir jemand die Halsschlagader aufgeschnitten, so dass ich fast tot war. Aber niemals habe ich in dieser Zeit gedacht: Hoffentlich geht das mal zu Ende."
Er wollte sein Leben nicht anders haben nach der Jahrtausendwende, als er keine Wohnung mehr hatte und der Alkohol zum Lebensinhalt geworden war. "Vielleicht hatte ich mich unbewusst immer danach gesehnt, auszubrechen aus der geordneten Gesellschaft und frei zu sein", überlegt er. "Seemann" wurde er auf der Straße gerufen, denn seit den Ostsee-Familienferien seiner Kindertage liebt er Mecklenburg mit seinen Schiffen, den Möwen, der Weite der Landschaft und des Himmels. Gern erzählt er auch Seemannsgeschichten und bekommt den Küsten-Tonfall dabei so gut hin, dass mancher ihn für ein echtes Nordlicht hält.
Für sich und für andere wertvoll sein
Nachdem er mit zwei Taschen willkürlich zusammengeworfener Habseligkeiten seine zwangsgeräumte Wohnung verlassen hatte, fand er zum ersten Mal in seinem Leben einen richtigen Freund. Dass Otto aus Mecklenburg stammte, dem Land seiner Sehnsüchte, war zu hören, sobald er nur den Mund aufmachte, und dass er genau am selben Tag geboren wurde wie er selbst, fand Bernd Hänsch fast ebenso schnell heraus. "Ein ganz einfacher Kerl mit Witz und Bauernschläue, gelernter Pferdekutscher, seit langem Profi-Bettler, aber ehrlich und sooo ein weites Herz", sagt er über seinen Freund und untermalt das Gesagte mit ausgespannten Armen. Als er selbst beispielsweise einmal Hausverbot in einer Wärmestube bekam, weil er sich nicht an das Alkoholverbot gehalten hatte, war für Otto klar: "Wenn Seemann dort nicht reindarf, gehe ich auch nicht rein."
Gemeinsam mit Otto und dem "Doktor", der gerne über seine angeblichen Hochschulabschlüsse in Philosophie und Mathematik schwadronierte, bildete Bernd Hänsch ein unzertrennliches Dreigestirn, das gemeinsam soff, sich eine "Grotte" - einen Unterschlupf für die Nacht - suchte, und nach "Zahltagen", wenn "Doktor" seine Invalidenrente erhalten hatte, mit einem "Schönes-Wochenende-Ticket" der Bahn durch Deutschland reiste. "Wir waren noch lebendig, und wenn wir nicht gerade zusammengeschlagen worden waren, immer fröhlich", sagt Bernd Hänsch über die ersten beiden Jahre seines Daseins als Wohnungsloser.
In sein vorheriges bürgerliches Leben hat er sich in dieser Zeit nicht zurückgewünscht. Er empfand jenen Lebensabschnitt als "abgeschlossenes Kapitel". Dabei hatte er einen hoffnungsvollen Start ins Leben gehabt. "In meiner Kindheit und Jugend habe ich mich immer wertvoll gefühlt, wertgeschätzt und geliebt von meinen Eltern", erinnert er sich. Auch äußerlich lief sein Leben wunschgemäß: ein guter Schulabschluss, eine Handwerksausbildung mit Abitur, nach der Armeezeit ein erfolgreiches Bauingenieursstudium, Heirat, Berufseinstieg und Geburt eines Sohnes in Cottbus. "So ganz wohlgefühlt habe ich mich in dieser Stadt aber nicht. Meine Hoffnung war die ganze Zeit, wieder zurück nach Leipzig zu kommen, in meine Heimat, zu meinen Eltern und Kumpels." Dieser Drang fortzukommen, trug dazu bei, dass seine erste Ehe zerbrach. Man ging im Guten auseinander, und doch sieht Bernd Hänsch die Trennung im Nachhinein als "erste Kerbe in meinem bewegten Leben".
Mit wenigen Sachen zog er nach Leipzig, fand eine interessante neue Arbeitsstelle und lernte seine zweite Frau kennen und lieben. Bald machte er mit ihr Zukunftspläne. Dass die fast ausschließlich um materielle Werte kreisten, wurde ihm erst viel später bewusst: "Es sollte uns gut gehen. Ein gutes Auto, ein schönes Haus … Ich hatte nicht gelernt danach zu fragen, was im Leben wichtig ist." Ungefähr acht Jahre später ging auch diese Ehe in die Brüche, und innerhalb kurzer Zeit verlor Bernd Hänsch nicht nur Frau und Kind, sondern alles, was ihm bis dahin Halt gegeben hatte: den mühsam erarbeiteten Besitz, seine Eltern, die kurz nacheinander starben, seinen Arbeitsplatz, der im Zuge der Wende einfach abgebaut wurde. "Eine hoffnungslose Situation. Plötzlich war ich für niemanden mehr wertvoll - und wurde damit nicht fertig."
Auch für ihn war niemand und nichts mehr wertvoll. Der Alkohol füllte die Leere, wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Angebahnt hatte sich das schon lange vorher, ist ihm heute klar. "In meinen Kreisen soff man beim Feiern bis zum Umfallen. Dass das nicht normal sein könnte, war nie ein Thema …" Eines Tages hörte er auf, Behördenpost zu öffnen und Miete- und Stromrechnungen zu beachten, später kümmerte er sich nicht mehr um sein Äußeres, und irgendwann leerte er nicht einmal mehr den Briefkasten.
Er erinnert sich noch gut daran, wie er auf der Straße stand und lange hilflos und beinahe emotionslos zuschaute, wie der Kran einer Speditionsfirma seine Möbel durch das Fenster der Wohnung herausholte, die bis dahin seine gewesen war. Seit einiger Zeit stand er im Kontakt mit Saufkumpanen, die ihre Wohnung bereits verloren hatten. "Sie empfingen mich mit offenen Armen", erzählt er. Dass es in Leipzig Hilfseinrichtungen für Wohnungslose gibt, wusste er damals nicht. Eine Mischung aus Stolz und Scham hielt ihn dann auch davon ab, zum Arbeitsamt zu gehen und Verlängerung für sein Arbeitslosengeld zu beantragen. Erst nach rund zwei Jahren auf der Straße stieß er mit seinen Kumpels auf die "Oase", die ökumenische Kontaktstube für Wohnungslose in Leipzig. Die Hausordnung war abschreckend für ihn, besonders das Alkoholverbot. Freundlich formulierte Hilfsangebote empfand er als nerviges "Gedöns" - und registrierte doch zugleich sehr genau, wenn jemand ihn als Mensch wahrnahm. So wie der Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, der Bernd Hänsch an seinem "Arbeitsplatz" einmal mit Handschlag begrüßte und ihm anbot: "Wenn dir kalt ist, kannst du in den Nikolaitreff kommen!" Auch die Chefin der Kleiderkammer in der "Oase" ist ihm in guter Erinnerung: "Sie war gut zu mir. Das hat Hoffnung und Mut gemacht."
Nach rund zwei Jahren auf der Straße spürte er, dass es mit ihm bergab ging. Er trank jeden Tag eine große Flasche Schnaps, fühlte sich schlapp, das Laufen fiel ihm schwer, er konnte sich nichts mehr merken… Als der Winter anbrach und er keine richtig gute "Grotte" gefunden hatte, beschloss er, allen Vorbehalten zum Trotz das "Nachtcafé" der "Oase" zu nutzen. Dass der Chef dort ihm nie in sein Leben hineinredete, rechnet er ihm hoch an. "Er gab Hinweise, die wirklich hilfreich waren, aber ich war frei, mich danach zu richten oder auch nicht …" Dass der Mietvertrag für das damalige Domizil der "Oase" nicht verlängert werden sollte, wussten die Gäste des Nachtcafés. Eines Tages Ende Dezember fragte der Chef in die Runde: "Wer hat Lust, die neue "Oase" mitzubauen?" An seinen ersten Gedanken kann Bernd Hänsch sich noch gut erinnern: "Leute wie uns sowas zu fragen! Der hat sie nicht mehr alle!" Fast alle Handwerksberufe waren vertreten unter den Nachtcafé- Besuchern, vom Klempner bis zum Malermeister. Im Januar ging es los, ein Trupp von rund 15 Wohnungslosen unterstützte die Fachfirmen zunächst bei Abrissarbeiten - mittendrin Bernd Hänsch. "Dabei habe ich seit langem wieder erlebt, wichtig zu sein", erzählt er. Einmal hat ihn der Chef gefragt, ob er weiß, wie die Decken in der neuen "Oase"- Unterkunft aufgehängt sind. "Da kannte ich mich natürlich aus. Ich hatte plötzlich das Gefühl: Hier kann es nochmal richtig losgehen. Die Hoffnung, dass da nochmal was wird in meinem Leben, hat mich richtig befl ügelt." Zugleich spürte er aber auch, wie schwer es ihm fiel, vier Stunden am Stück zu arbeiten und ohne Alkohol zu sein. Drei oder vier aus der Gruppe mussten aufgeben und hielten das nicht durch.
"Da bewegt sich nochmal etwas ..."
Ein Abend auf dem Bahnhof von Stendal brachte für Bernd Hänsch die entscheidende Lebenswende. Bei seinem Freund "Doktor" war Rentenzahltag gewesen, und mit Otto und einem weiteren Kumpel hatten sie in der Hoffnung auf ein "Schönes Wochenende" zunächst Cottbus angesteuert. Enttäuscht, weil sich dort so viel verändert hatte, wurde Hamburg als neues Ziel ins Auge gefasst. In Stendal gab es keinen Anschlusszug mehr in Richtung Nordwesten, und auch der Schnaps war alle. Im stürmischen Schneetreiben schwärmten die vier Männer aus, um in der ausgestorben wirkenden Kleinstadt Nachschub zu beschaffen. Hänsch war der erste, der unverrichteter Dinge an den vereinbarten Treffpunkt auf dem verlassenen Bahnsteig zurückkehrte. Die Atmosphäre schien gespenstisch, trübe Bahnsteiglaternen schwankten im Sturm, durch die Entzugserscheinungen verstärkt, fühlte er sich wie in einem Hitchcockfilm, und die Kumpels ließen seit einer Ewigkeit auf sich warten. Der Gedanke, der ihn plötzlich durchfuhr, wurde innerhalb kurzer Zeit zur Gewissheit: "Ich muss nach Leipzig, zurück zur ,Oase‘. Wenn ich will, dass sich mein Leben weiter bewegt, muss ich da hin." Ohne einen Cent in der Tasche stieg er in den nächsten ICE Richtung Süden. Dass ein Fernzug weniger Rauswurf- Möglichkeiten bietet als eine Regionalbahn, war dabei wohl kalkuliert. Es klappte ohne Rauswurf. Mitten in der Nacht kam er im Nachtcafé an und weckte dort alle mit der freudigen Botschaft: "Ab morgen höre ich auf zu saufen." Mit einer Rasur und frischen Klamotten aus der Kleiderkammer begann seine dritte Lebensphase. Sieben Jahre ist das nun her, und die frohe Botschaft von damals hat sich tatsächlich erfüllt. Dass er damit ein Glücksfall ist, weiß der mittlerweile 58-Jährige: "So einfach geht das vielleicht bei einem von tausend", glaubt er. Ohne große Anstrengung, sogar ohne Entziehungskur hat er die Kurve gekriegt, weil vieles sich ineinander fügte: "Es war der richtige Augenblick, ich hatte gute Partner, die mich unterstützt haben und der Allmächtige hat mir geholfen - obwohl: Ich glaube ja gar nicht an den lieben Gott …"
Wer im Dunkeln war, erlebt das Licht intensiver
Von "seiner Oase" spricht Bernd Hänsch, nicht nur, weil er sie mitgebaut hat, sondern weil er hier all das fand, woran er seine Hoffnung knüpfen konnte. Seine noch vorhandenen Qualitäten hier einsetzen zu können, ist ihm bis heute Ansporn. Anfangs half er, die Bauarbeiten zu beenden, dann besserte er seine Arbeitslosenunterstützung in der Werkstatt auf, später im Sekretariat und als Mitarbeiter in der Sozialarbeit. Die Energie, die er in sich spürte, nachdem er eine Weile nicht mehr getrunken hatte, gab zusätzlichen Auftrieb. Er konnte sich weiterbilden und dabei auch seine eigene Lebensgeschichte verarbeiten. Der Chef der "Oase" ist heute sein Freund. "Mein dritter und hoffentlich letzter Lebensabschnitt hat eine Qualität, die ich so nie kannte", sagt er. "Ich erlebe Dinge, die wunderbar sind. Auch wenn ich dafür einen schlimmen Weg gehen musste: Ich habe erkannt, was wirklich wichtig und wertvoll ist für mein Leben." Die gewonnene Lebenserfahrung hat ihn so stark gemacht, dass er auch Enttäuschungen tragen kann: "Ich hatte die große Hoffnung, dass es anderen auch so leicht fällt wie mir, sich zu ändern." Er leidet darunter, dass bei so wenigen Besuchern der Oase Hoffnung zu spüren ist. Wie gern würde er sie an seiner eigenen Erfahrung teilhaben lassen. "Aber wie spricht man über so etwas, ohne als Weltverbesserer, Strahlemann oder Besserwisser anzukommen?"
Hoffnung und die Angst, dass sie unerfüllt bleibt
Auch seine engsten Freunde konnten ihm nicht folgen auf dem Weg in den neuen Lebensabschnitt. Der "Doktor" kehrte zwei Wochen nach ihm zurück nach Leipzig, ließ sich dann aber immer seltener in der "Oase" sehen. Bernd Hänsch weiß, dass er gestorben ist, von einem Kumpel im Streit über die Brüstung einer Elbbrücke geworfen. Otto ist nicht nach Leipzig zurückgekehrt, und er hat ihn seither nie wieder gesehen. "Er ist aus meinem Leben verschwunden, aber ich spüre, dass er lebt", sagt er. Tatsächlich hat ein Suchdienst ihn vor einiger Zeit in einer Berliner Notübernachtung ausfindig gemacht. Er weiß nicht, ob er seinen Freund wieder treffen will. "Ich stelle mir vor, er steht vor mir und sagt: Komm, lass uns einen saufen! - Und was soll ich ihm dann sagen?" Bernd Hänschs große Hoffnungen sind ein wenig immer auch mit Ängsten verbunden: "Ich habe Angst davor, erleben zu müssen, dass auch ich es eines Tages nicht mehr schaffe. Ich hoffe, dass ich nicht krank werde, dass ich weiterhin ein wacher Mensch bleibe …"
Aber da sind auch die vielen kleinen Hoffnungen, die fast zu banal sind, um erwähnt zu werden, die aber trotzdem dienlich sind, sich durch den Alltag zu hangeln: Der Ausfl ug morgen zum Beispiel, hoffentlich wird er schön, und vielleicht spielt auch das Wetter mit …
Von Dorothee Wanzek