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Seelsorger und Parteichef

Stephan Gottwald dokumentiert den Nachlass des Chemnitzer Pfarrers Ludwig Kirsch

Chemnitz. Dass katholische Priester sich parteipolitisch betätigten, war zu seiner Zeit nichts Ungewöhnliches. Bemerkenswert an Pfarrer Ludwig Kirsch (1891-1950) ist die Intensität, mit der er beide Berufungen lebte. Stephan Gottwald widmet sich seit Jahresbeginn Kirschs Nachlass.

Stephan Gottwald mit Zeitungsartikeln und Predigtbüchern des früheren Chemnitzer Pfarrers Ludwig Kirsch. Im Hintergrund ein historisches Plakat, das einen Vortrag des CDU-Politikers ankündigt.

Ludwig Kirsch war für Stephan Gottwald immer schon ein vertrauter Name. Seine Mutter hatte ihren einstigen Jugendkaplan häufig erwähnt. Überrascht hat ihn indes, wie umfangreich die im Pfarrhaus der Chemnitzer St.- Joseph-Gemeinde aufbewahrten Schriften des einstigen Pfarrers sind: 25 Bücher mit handschriftlich festgehaltenen Predigten, elf Tagebücher, hunderte Zeitungsartikel und Briefe, darunter die Korrespondenz mit illustren Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer oder Horst Sindermann zeugen von der Wortgewalt des Priesters, der vor seiner Chemnitzer Zeit unter anderem das Presseapostolat des Bistums geleitet hatte.

Im Rahmen eines vom Europäischen Sozialfonds und der Stadt Chemnitz finanzierten Projektes ist es nun Gottwalds Aufgabe, das Material zu erfassen und Teile daraus zu veröffentlichen.

Als Vorsitzender der sächsischen Zentrumspartei und als Erwachsenenseelsorger des Bistums Meißen hatte Ludwig Kirsch bereits vor der Machtergreifung klar Stellung gegen die Nationalsozialisten bezogen und vor den Gefahren ihrer Ideologie gewarnt. Kurz nachdem er Pfarrer in Chemnitz geworden war, wurde er drei Monate lang im Konzentrationslager Sachsenburg gefangen gehalten, das auf seinem Pfarrgebiet lag. Den Anlass dafür bot ein Brief, den er einem Ehepaar in seiner vorherigen Gemeinde Reichenbach geschrieben hatte. Die Eltern eines behinderten Kindes hatten Kirsch um Rat gefragt, weil sie sich gegen ihre staatlich angeordnete Zwangssterilisation wehren wollten. Der hatte sie dazu aufgefordert, sich nach den kirchlichen Überzeugungen zu richten, die im fundamentalen Gegensatz zu den staatlichen Gesetzen stünden.

Beeindruckend findet Stephan Gottwald vor allem die Geradlinigkeit, Aufrichtigkeit und Bescheidenheit Ludwig Kirschs: "Was er von anderen gefordert hat, hat er selbst vorgelebt", ist ihm aufgefallen. Seine Kritik sei mitunter scharf, häufig witzig, immer geistreich formuliert und mit konkreten Lösungsvorschlägen verknüpft gewesen. Seine politischen Erfolge verdanke er nicht zuletzt seiner Fähigkeit, mit unterschiedlichsten Menschen persönliche Beziehungen zu knüpfen. Selbst vor Angehörigen der sowjetischen Militäradministration hatte er keine Berührungsängste und stieß damit bei manchen Gemeindemitgliedern auf Unverständnis. "Wer ihn nur als Priester oder nur als Politiker sieht, der wird Ludwig Kirsch nicht gerecht", ist Stephan Gottwalds Überzeugung. Sein politisches Engagement sei aus seinem Selbstverständnis erwachsen, als Priester nicht nur für die Katholiken, sondern für das Wohl aller Menschen Verantwortung zu tragen.

Nach Kriegsende kümmerte er sich als CDU-Politiker deshalb um fundamentale Bedürfnisse der Bevölkerung wie die Kohle-Versorgung, nahm aber auch Einfluss auf die großen Linien der Politik: Die Einheit Deutschlands war ihm ein Anliegen und die Überwindung von Marxismus und Materialismus im Sinne der katholischen Soziallehre. Zu seinen Lebzeiten schien es sinnvoll, diese Ziele in einer gemeinsamen Blockpolitik mit der SED zu verfolgen. Kurz nach seinem Tod gelang es der SED, die CDU gleichzuschalten.

Stephan Gottwald hat einen Vortrag über Ludwig Kirsch ausgearbeitet und kommt gern zu Gemeinde- oder Gruppenabenden. E-Mail: stepgo@gmx.de


Hintergrund

Lebensdaten Ludwig Kirsch


9.12.1891 in Dresden geboren

1914 Priesterweihe

1919 Expositus in Bärenstein

1924 Pfarrer in Reichenbach September bis Dezember 1935 inhaftiert im KZ Sachsenburg

1935 Pfarrer der Chemnitzer St.- Joseph-Gemeinde

1945 Mitgründer der Christlichen Volkspartei, die kurz darauf in CDU umbenannt wird. Er wird Chemnitzer Kreisvorsitzender

1946 Stadtverordneter in Chemnitz, Vorstandsmitglied der CDU in der Sowjetischen Besatzungszone

1948 stellvertretender CDULandesvorsitzender, Mitglied des deutschen Volksrats

22.1.1950 gestorben


Von Dorothee Wanzek